© Bernd Roselieb
Erscheinung:24.11.2021 Aufsicht heute und morgen – Perspektiven der BaFin
Rede von Dr. Frank Grund, Exekutivdirektor Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), bei der Internationalen GDV-Konferenz zur Versicherungsregulierung am 24. November 2021
Es gilt das gesprochene Wort!
Verehrter Herr Dr. Weiler,
es war mutig von Ihnen, mich über die „Aufsicht heute und morgen“ reden zu lassen. Dazu fällt mir eine Menge ein. Sicher haben Sie mir deswegen nur 20 Minuten gegeben. Das erfordert wiederum auf meiner Seite Mut. Mut zur Lücke.
Ich will gar nicht so sehr unterscheiden zwischen heute und morgen, denn das, was wir uns für die nächsten Jahre vornehmen – und konkret im kommenden Jahr – ist das, was uns auch heute schon bewegt. Unser gesetzlicher Auftrag ist klar: Vereinfacht ausgedrückt haben wir für ein stabiles, sicheres und integres Finanzsystem zu sorgen und die kollektiven Interessen von Verbraucherinnen und Verbrauchern zu schützen. Der Auftrag, Verbraucher zu schützen, ist – was die gesamte BaFin angeht – zwar noch relativ jung. Er stammt aus dem Jahr 2015. In der Versicherungsaufsicht haben wir diesen Auftrag aber schon seit jeher.
Sie wissen es: Nach § 294 Versicherungsaufsichtsgesetz besteht das Hauptziel der Versicherungsaufsicht darin, Versicherungsnehmer und die Begünstigten von Versicherungsleistungen zu schützen. Wir achten darauf, dass die Belange der Versicherten ausreichend gewahrt werden, wir achten auf die dauernde Erfüllbarkeit der Verpflichtungen aus den Versicherungen, die ordnungsgemäße Durchführung des Geschäftsbetriebs und die Einhaltung der Gesetze. Angesichts dieses Auftrags bin ich natürlich besonders froh, dass das Bundesverwaltungsgericht in diesem Jahr unsere Befugnisse im Hinblick auf die allgemeine Missstandsaufsicht auch in der Solvency-II-Welt ausdrücklich bestätigt hat. Einen vergleichbaren Schutzgedanken verfolgt auch § 1a Versicherungsvertragsgesetz, der für Versicherer und Vermittler gilt: Beide müssen bei ihrer „Vertriebstätigkeit gegenüber Versicherungsnehmern stets ehrlich, redlich und professionell in deren bestmöglichem Interesse handeln."
Damit ist vieles gesagt, aber nicht alles. Basierend auf unserem gesetzlichen Auftrag und mit Blick auf die Chancen und Risiken im Finanzsektor haben wir daher im Direktorium Mitte November zehn Ziele verabschiedet. Die verfolgen wir nun in den kommenden vier Jahren, um unseren Auftrag bestmöglich im Sinne einer risikoorientierten und präventiven Aufsicht zu erfüllen. Sie finden diese Ziele auf unserer Webseite. Sie sind bewusst recht abstrakt gehalten. Konkreter werden wir in unseren Aufsichtsschwerpunkten, mit denen wir ins kommende Jahr gehen. Einige Schwerpunkte der BaFin zur Versicherungsaufsicht möchte ich Ihnen heute kurz schildern, wenngleich wir uns auf der Internationalen GDV-Konferenz zur Versicherungsregulierung befinden. Viele unserer Schwerpunktthemen finden sich aber in ähnlicher Form auch auf der EIOPA-Agenda – denn wir stehen national wie international vor sehr ähnlichen Herausforderungen.
Wichtig ist uns in unseren Mittelfristzielen und in unseren Aufsichtsschwerpunkten 2022 die Digitalisierung. Die Prozesse in den Unternehmen und die Kommunikation mit den Kunden haben in der Corona-Pandemie einen deutlichen digitalen Schub erhalten. Das zieht einen weiteren Umbau der Geschäftsmodelle nach sich. Deshalb interessiert es uns natürlich, ob die Versicherer ihre eigene digitale Transformation finanzieren und operativ umsetzen können. Uns interessiert auch, wie die Versicherer die Automatisierung ihrer Prozesse vorantreiben. Setzen sie zum Beispiel künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen ein? Wie stellen sie sich dabei an und wie managen sie die damit verbundenen Risiken für sich und ihre Kunden?
Aber auch die dunkle Seite der Digitalisierung wird uns im kommenden Jahr weiter beschäftigen: Denn Versicherer sind ein beliebtes Ziel von Cyberangreifern. Umso wichtiger ist es, dass sie sich vor Cyberangriffen, aber auch vor internen Pannen ausreichend schützen. Wir haben bei unseren Prüfungen vor Ort festgestellt, dass es in puncto IT-Sicherheit bei den Versicherern noch Verbesserungspotenzial gibt. Wir werden also weiter prüfen, ob und wie sich die Unternehmen rüsten. Vor allem die IT-Governance werden wir uns ansehen. Einen weiteren Schwerpunkt unserer Arbeit im kommenden Jahr bildet die Nachhaltigkeit. Das gilt übrigens für die gesamte BaFin. Das Thema findet sich auch in den Mittelfristzielen wieder. Für die Versicherer geht es darum, den richtigen Umgang mit den Chancen und Risiken der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen rund um die Nachhaltigkeit zu finden. Aus eigenem Interesse und im Sinne der Nachhaltigkeit. Wir geben zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken in unserem gleichnamigen Merkblatt einige Hinweise. Wie Versicherer und andere Unternehmen diese Hinweise umsetzen, haben wir uns kürzlich in einer Umfrage angesehen.
Dabei werden wir es jedoch nicht belassen, meine Damen und Herren. Das Thema Nachhaltigkeit bleibt weit oben auf unserer Agenda. Eine Frage wird sein, wie die Versicherer ihre Klimarisiken im obligatorischen ORSA-Bericht einschätzen, also in der unternehmenseigenen Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung. Spätestens 2022 müssen alle ORSA-Berichte Aussagen zum Klimawandelrisiko enthalten. Unternehmen, die zu der Einschätzung kommen, dass Klimawandelrisiken für sie nicht wesentlich sind, müssen das im ORSA-Bericht genau begründen. Sind sie wesentlichen Klimarisiken ausgesetzt, müssen sie unterschiedliche Stressszenarien durchrechnen. Bei den Schaden- und Unfallversicherern und den Rückversicherungsunternehmen spielt das Naturkatastrophenrisiko eine immer größere Rolle – wie uns im Sommer das Starkregenereignis hier im Bonner Raum deutlich vor Augen geführt hat. Umso wichtiger ist es, dass die Solvenzkapitalanforderung für dieses Risiko in der Standardformel und den internen Modellen angemessen berechnet wird. Klimarisiken sind definitiv ein zentrales Thema für das Risikomanagement der Unternehmen – sowohl für die Aktiv- als auch für die Passivseite der Bilanz. Dazu gehört es sicher auch, Kumulrisiken oder regionale Konzentrationen im ORSA-Prozess angemessen zu berücksichtigen.
Das dritte und ebenfalls BaFin-weite Schwerpunkthema im nächsten Jahr ist der kollektive Verbraucherschutz. Ich halte ihn aktuell für besonders wichtig, denn viele Versicherer haben im Laufe der COVID-19-Pandemie ihre Prozesse und ihre Produktwelt weiter digitalisiert. Dabei dürfen Verbraucher nicht zu kurz kommen. Das Spannungsfeld zwischen Innovation, Transparenz und Diskriminierungsfreiheit wird uns sicher noch lange beschäftigen. Gerade deshalb ist es uns auch sehr wichtig zu prüfen, ob die Versicherer die verbraucherschützenden Vorgaben im Produktentwicklungsprozess beachten. Ein Versicherungsprodukt muss über seine gesamte Lebensdauer den ermittelten Bedürfnissen, Zielen und Merkmalen des Zielmarkts entsprechen. So verlangt es die einschlägige Delegierte Verordnung zur EU-Versicherungsvertriebsrichtlinie. So rechnen sich kapitalbildende Lebensversicherungen für Kundinnen und Kunden oft erst dann, wenn der Versicherungsvertrag über einen bestimmten Zeitraum durchgehalten wird. Das müssen die Unternehmen bei der Ansprache der Kunden beachten. Manche Produkte sind eben für stornoanfällige Kundengruppen oder Vertriebskanäle nicht geeignet.
Ähnlich wichtig ist der Aspekt der Vertriebsvergütung – gerade in der Lebensversicherung. Wir interessieren uns für den „value for money“ – sprich: den Kundennutzen eines Produkts. Zu hohe Vertriebsvergütungen –unmittelbar durch den Versicherer oder mittelbar durch Fondsanbieter oder sonstige Dritte – können zu Fehlanreizen am Point of Sale führen. Sie könnten also eine ergebnisoffene Information und Beratung der Versicherungsnehmer beeinträchtigen. Zusätzlich können überhöhte Kosten für ein Produkt zu einem unausgewogenen „Preis-Leistungs-Verhältnis“ führen. Für die Kunden könnte das unerfreuliche Konsequenzen haben: Ihre Renditen könnten deutlich geschmälert werden. Hierzu werden wir uns noch konkret äußern. 2022 werden wir auch die Auswirkungen der Negativzinsphase auf die Lebensversicherer und Pensionskassen im Blick behalten. Unsere intensivierte Aufsicht hat sich hier ja schon bestens bewährt. Und wir wissen, an welchen Stellen wir besonders genau hinschauen müssen. Besonders interessiert uns natürlich, ob die Unternehmen die Anforderungen des Regelwerks Solvency II Ende 2031 sicherstellen können, ohne dabei Übergangsmaßnahmen anwenden zu müssen. Denn dann läuft bekanntlich die Übergangsfrist aus.
Damit, meine Damen und Herren, bin ich bei einem Thema gelandet, das uns nicht nur mittel-, sondern langfristig beschäftigen wird: Solvency II. Das Regelwerk stand und steht auf dem Prüfstand. Nicht, weil man es grundsätzlich in Zweifel zöge. Nein, aber Regelwerke von diesem Kaliber zeigen ihre wahre Qualität immer erst im wirklichen Leben. Daher auch der planmäßige Review der Rahmenrichtlinie. Welche Qualitäten Solvency II hat, haben wir zum Beispiel in der Corona-Pandemie gesehen. Anders als etwa bei den Banken mussten wir die Versicherer nur operativ entlasten. Auf der Kapitalseite brauchten wir das nicht. Denn in der Solvency-II-Toolbox gab und gibt es ein hilfreiches Instrument: die Volatilitätsanpassung. Hilfreich waren und sind aber auch die Übergangsmaßnahmen, die die Unternehmen bis Ende 2031 nutzen können. Das sind aber nur einzelne Beispiele. Aus meiner Sicht hat sich dieses risikosensitive, prinzipien- und marktwertbasierte Regelwerk seit seinem Inkrafttreten Anfang 2016 insgesamt bewährt. Was nicht heißt, dass Solvency II frei von Fehlern wäre. Es gibt Mängel, die behoben werden sollten. Wir sehen uns gerade die Vorschläge an, die die Europäische Kommission zu diesem Review veröffentlicht hat. Der Ball liegt im Feld der Politik. Aber Sie kennen mich, ich kann mir die eine oder andere Bemerkung zum Thema nicht verkneifen.
Zum Beispiel die, dass die Vorschläge der Kommission mir besser ausbalanciert erscheinen als die Stellungnahme, die EIOPA Ende 2020 vorgelegt hat. Die war damals bekanntlich ein Kompromiss. Ich hatte die Sorge, dass die deutschen Lebensversicherer wegen des niedrigen Zinsniveaus zu stark belastet würden. Damit meine ich die von EIOPA geplanten Änderungen an der Extrapolation der Zinsstrukturkurve. Das Risiko einer zu starken finanziellen Belastung der gesamten Branche – und gerade auch der deutschen Lebensversicherungsunternehmen – ist nun nicht mehr gegeben. Die Kommission hat nämlich deutliche Erleichterungen vorgesehen. Etwa bei der Risikomarge und der Volatilitätsanpassung. Durch die nur schrittweise und nicht sofortige Einführung der Änderungen an der Extrapolation kann es nun zu spürbaren temporären Entlastungen kommen.
Die Kommission möchte dieses freiwerdende Kapital „sinnvoll“ investiert wissen. Und das könnte negative Auswirkungen auf den Versicherungsnehmerschutz haben. Etwa wenn Unternehmen in riskantere Kapitalanlagen investieren, obwohl sie mit Blick auf 2032 – wenn sämtliche Änderungen von Solvency II ohne Wenn und Aber greifen – kein ausreichendes Solvenzkapital haben. Wir werden uns das alles sehr genau ansehen, um zu verhindern, dass Versicherer temporär freiwerdendes Kapital missbräuchlich verwenden. Vorsicht ist aus meiner Sicht auch bei der Volatilitätsanpassung geboten. Ich begrüße zwar die Vorschläge, dieses bewährte und in Deutschland oft genutzte Instrument zu stärken. Die Änderungen der Kommission führen aber dazu, dass die Volatilitätsanpassung weiter erhöht wird. Für einzelne Unternehmen könnte das zu viel des Guten sein.
Aus meiner Sicht wären daher zusätzliche aufsichtliche Instrumente hilfreich. Damit könnte man bei einzelnen Unternehmen eine Überkompensation, das sogenannte Overshooting und damit Fehlanreize für das Risikomanagement begrenzen. Die Kommission hat in ihrem Vorschlag zahlreiche Empfehlungen von EIOPA aufgegriffen. Dazu gehören, die geplante Entlastung kleinerer Versicherer, ein Mehr an Proportionalität in allen drei Säulen des Regelwerks und die Überlegung, künftig auch negative Zinsen in der Standardformel zu berücksichtigen. Es freut mich, dass diese Punkte aufgenommen worden sind. Wir hatten uns von Beginn an für alle drei eingesetzt. Besonders erfreulich ist aus meiner Sicht das neue Proportionalitätskonzept. Danach sollen zum einen die Solvency-II-Eintrittsschwellenwerte angehoben werden. Zum anderen werden proportionale Mindestanforderungen für „low risk profile undertakings“ definiert. Dadurch würde vor allem Transparenz und Rechtssicherheit für Versicherer geschaffen, da es erstmals eine Benchmark für Proportionalitätsmaßnahmen gäbe. Alles in allem ein guter Ansatz. Wir hatten uns zwar für noch mehr Proportionalität stark gemacht. Aber immerhin!
Größeren Diskussionsbedarf sehe ich noch bei den Vorschlägen der Kommission zur Sanierung und Abwicklung. Wir haben es hier mit dem Entwurf einer neuen Richtlinie zu tun. Wenn ich mir ansehe, welche Größenordnung die Abwicklungsplanung darin einnimmt, dann frage ich mich nach der ökonomischen Notwendigkeit. Die Belastungen wären hoch – für uns und die Unternehmen. Man sollte an der Stelle eher risikoorientiert vorgehen. EIOPA soll zudem den Auftrag erhalten, zahlreiche Detailregelungen in Form von Technischen Regulierungsstandards zu entwickeln. Ist dieser Weg der richtige? Diese Frage sollte man sich stellen. Wir haben uns bislang auf diesem Gebiet für eine Minimalharmonisierung ausgesprochen. Und dann soll EIOPA zusätzliche Befugnisse bekommen. Finde ich das sinnvoll? Wie gesagt: Jetzt ist die Politik am Zuge.