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Erscheinung:03.12.2020 „Wie sicher ist das deutsche Finanzsystem?“

Rede des Präsidenten der BaFin, Felix Hufeld, am 25. November 2020 bei der Mitgliederversammlung der Frankfurter Gesellschaft in Frankfurt

Es gilt das gesprochene Wort.

Meine Damen und Herren,
aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Endlich einmal hat sich dieser Satz bestätigt, und so freue ich mich, dass wir heute meine ursprünglich für April geplante Rede nachholen können, wenn auch unter anderen Bedingungen, nämlich digital. Digital ist derzeit auch ein großer Teil meines beruflichen Alltags. Ich genieße es daher, gerade mit meinem papiernen Manuskript in der schönen Villa Bonn zu sein. Aber die Digitalisierung spielt auch bei der Frage eine Rolle, die Sie mir heute zu beantworten aufgegeben haben: „Wie sicher ist das deutsche Finanzsystem?“. Diese Frage stelle ich heute in den Mittelpunkt meiner Rede. Natürlich könnte ich stattdessen ohne Weiteres mehrere Stunden über ein anderes großes Thema reden, das – wie der sprichwörtliche Elefant – im Raum steht: Wirecard. Darüber können wir aber gerne im Anschluss sprechen, wenn Sie das Bedürfnis haben.

Wenden wir uns also erst einmal der Sicherheit unseres Finanzsystems zu. Und seien Sie nicht überrascht, wenn ich zunächst etwas in der Zeit zurückgehe – und zwar in die Antike. Texte aus dieser Zeit erzählen von einer Stadt, die sich für besonders sicher, ja uneinnehmbar hielt: Troja.

Wie wir aus Homers Ilias wissen, verfügte Troja über eine nahezu perfekte Befestigung und heldenhafte Verteidiger, die es mit jedem Gegner aufzunehmen wussten. Trotzdem gelang es den Griechen am Ende, Troja zu erobern – und zwar mit einer List: dem inzwischen sprichwörtlich gewordenen trojanischen Pferd, in dessen hölzernem Bauch sich Krieger befanden. Doch selbst dieser Geniestreich wäre fast fehlgeschlagen. Der Priester Laokoon und die Königstochter Kassandra hatten erkannt, dass der geschenkte Holzgaul den Untergang Trojas besiegeln würde. Doch die Trojaner schlugen ihre mahnenden Worte in den Wind.

Warum nun dieser Ausflug in die Antike? Weil uns die Geschichte von Troja mindestens zwei Dinge lehrt.

1: Es gibt keine perfekte Sicherheit, weder für Troja – und auch nicht für das Finanzsystem.

Und 2: Dass die Rolle der Kassandra, die in der modernen Finanzwelt gerne von Aufsehern wahrgenommen wird, eine durchaus gefährliche sein kann – zumindest aber eine unbeliebte. Ich glaube, in dem Thema bin ich inzwischen Experte.

Was wir aber tun können und müssen: wie in Troja eine Sicherheitsarchitektur errichten – ergänzt um effektive Widerstandsfähigkeit und Abwehrkraft, die auch mit versteckten Gefahren umzugehen weiß. Wir wollen schließlich nicht enden wie Troja. Was die Sicherheitsarchitektur angeht, sehe ich uns mit dem Kanon an Gesetzen und Regelwerken, die nach Ausbruch der Finanzkrise 2007/2008 entstanden sind, im Großen und Ganzen gut bis sehr gut gerüstet. Wie notwendig und richtig dies war, zeigt die derzeitige Pandemie. Niemand kann ahnen, aus welcher Ecke genau die nächsten haarsträubenden Probleme erwachsen. Oder hat jemand von Ihnen vor einem Jahr daran gedacht, dass das Jahr 2020 im Zeichen eben jener Pandemie stehen würde, die nicht nur viele Menschenleben kostet, sondern auch unser Wirtschaftsleben auf den Kopf stellen würde? Kassandra oder Laokoon1 hätten so etwas vielleicht geweissagt. Aber göttliche oder magische Fähigkeiten sind in unseren Tagen doch eher selten geworden.

Was können wir also tun? Wir beobachten neue Entwicklungen am Markt sehr genau und tauschen uns regelmäßig mit Experten aus Wissenschaft, Industrie und Politik dazu aus.

Das hilft uns, Marktveränderungen umfassend zu bewerten und das Risiko für den Ausbruch einer neuen Krise zumindest zu minimieren. Sie kennen die alte Ingenieursweisheit: Hubraum ist durch nichts zu ersetzen. Mit Blick auf die Finanzwelt kann ich nur sagen: Kapital und Liquidität sind durch nichts zu ersetzen, um ein grundsätzliches und gewissermaßen abstraktes Niveau an Sicherheit zu garantieren, um gegen die Unwägbarkeiten der Welt gewappnet zu sein. Es freut mich, dass ich von dem einen oder anderen Bankenchef höre – natürlich hinter vorgehaltener Hand –, dass er jetzt doch ganz froh sei über die diversen Kapitalpuffer, die wir den Banken in den vergangenen Jahren auferlegt hätten. Und über die sie sich vor zwei Jahren noch gewaltig aufgeregt hätten.

Werfen wir nun einen genaueren Blick auf drei wesentliche Elemente eines stabilen Finanzsystems: Auf das regulatorische Fundament, auf die operative Aufsicht und die Analyse neuer Herausforderungen. Vorweg sollte allerdings eines gesagt werden: Die Grenze zwischen Regulierung und Aufsicht verläuft in der Praxis nicht immer so trennscharf wie es die Theorie nahelegt. Gewiss, die Regulierer tun das, was ihr Name vermuten lässt. Sie entwickeln und setzen neue Rechtsnormen.

Und wir, die BaFin, betreiben primär Aufsicht. Gleichzeitig wirken wir aber intensiv an regulatorischen Vorhaben mit – auf nationaler, europäischer und globaler Ebene. Und seit in Reaktion auf die letzte Finanzkrise neue europäische Aufsichtsbehörden entstanden sind, ist die Mitwirkung an europäischer Regulierung Teil unseres Tagesgeschäfts geworden.

Regulatorisches Fundament

Meine Damen und Herren,
die Nachkrisenreformen haben die Finanzmärkte stabiler und sicherer gemacht. Zuvor wiesen einige regulatorische Werke durchaus Schwächen auf, was nicht zuletzt an einem bestimmten Zeitgeist lag, der auch Teile von Politik und Wissenschaft durchdrungen hatte: Man empfand Deregulierung als Befreiung von unnötiger Bürokratie und sah in ihr eine Voraussetzung für gestärktes Wirtschaftswachstum. Auch in der Gesetzgebung fand dieser Zeitgeist Widerhall. Und so wurden in den Jahrzehnten vor 2007 weltweit die Finanzmärkte dereguliert. Eine Reihe wichtiger Regeln wurde dabei außer Kraft gesetzt. Ein Beispiel ist der Glass-Steagall-Act in den USA, der eine klare Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken vorsah. 1999 wurde er durch die Regierung von Bill Clinton aufgehoben.

Aufbauend auf der unter anderem von Eugene Fama geprägten Hypothese von der Effizienz der Märkte glaubten eben viele an die Rationalität des Marktes. Langfristig mag das ja funktionieren. Aber langfristig, so formulierte es einmal John Maynard Keynes, sind wir alle tot. Eine andere zutreffende Prognose von ihm sei ebenfalls erwähnt: “The market can stay irrational longer than you can stay solvent”. Als Aufseher kann ich Ihnen nur sagen: Wo er recht hat, hat er recht. Auch in der heutigen Welt können wir ganz sicher nicht einfach darauf hoffen, dass die langfristigen Selbstheilungskräfte des Marktes irgendwann ihre Wirkung entfalten. Und auch Verbraucher, die heute einen Schaden zu tragen haben, werden sich kaum damit trösten lassen, dass sich die Märkte vielleicht in fünf bis zehn Jahren wieder erholen.

Mit der Krise kam der Paradigmenwechsel – hin zu mehr staatlicher Kontrolle und zu einer robusteren Aufsicht. Unter hohem Druck mussten weitreichende neue Vorgaben entwickelt und international mehrheitsfähig gemacht werden. Das entscheidende Post-Krisen-Regulierungsziel steckten die G-20-Staats- und Regierungschefs 2008 ab: Alle Finanzmärkte, alle Produkte und alle Marktteilnehmer sollten reguliert werden – aber, und das ist das Entscheidende, angemessen!

Die neue Regulierung sollte effizient sein, Innovation aber nicht unterdrücken. Außerdem soll sich ihr Umfang nach dem jeweiligen Geschäft und den damit verbundenen Risiken richten. Regulierung und die darauf basierende Aufsicht müssen also beispielsweise unterscheiden zwischen großen und stark vernetzten Unternehmen und kleineren, die meist auch einen überwiegend regionalen Fokus haben. Angemessene Regulierung lässt Freiheit zu und macht freies wirtschaftliches Handeln und Wohlstand erst möglich. Auf dem schmalen Grat der Angemessenheit und Proportionalität zu wandeln, ist die hohe Kunst der Finanzregulierung – eine vermutlich immerwährende Aufgabe.

Seit der Finanzkrise sind mehr als zwölf Jahre vergangen: Regulierungslücken wurden geschlossen, und insgesamt ist der Finanzmarkt heute deutlich robuster als zu Krisenzeiten. Zugleich hat sich die krisenbedingte Finanzregulierung als ein Katalysator für Europa erwiesen. Sowohl das materielle Recht der Finanzregulierung als auch die institutionelle Verankerung von Finanzregulierung und -aufsicht sind heute ganz überwiegend europäisiert – Stichwort Bankenunion und möglicherweise künftig auch Kapitalmarktunion. Diese inhaltliche und institutionelle Stärkung kommt uns natürlich auch in der aktuellen Corona-Krise zugute.

Ohne die tiefgreifenden Reformen der Nachkrisenzeit stünden die Banken heute mit Sicherheit nicht so da, wie sie es gerade tun.

Im Gegensatz zu früher verfügen die Banken heute über mehr und besseres Eigenkapital. Und wir haben mehr Liquidität im Markt. Dieses Mal wurde sogar nach der Kreditwirtschaft gerufen, um die Krise einzudämmen und die Auswirkungen der Pandemie auf die Realwirtschaft abzumildern. Und zwar, indem die Institute ihrer klassischen Rolle nachkommen: nämlich Kreditgeber zu sein, Mittler zwischen Kapitalgebern und Kapitalnehmern. Diesen Kraftakt hätte die Kreditwirtschaft aber kaum alleine stemmen können. Zuvor mussten Regierungen und Parlamente überall auf der Welt Hilfspakete historischen Ausmaßes schnüren. Und Zentralbanken sorgten mit weitreichenden geldpolitischen Entscheidungen für Liquidität am Markt. Auch wir Aufseher haben weltweit unseren Part geleistet – und nach Ausbruch der COVID 19-Pandemie viele, unmittelbar wirksame Maßnahmen ergriffen, um den Banken den Rücken zu stärken.

Operative Rolle der Aufsicht

Was konkret haben wir getan? Wir – aber auch andere Aufsichtsbehörden – haben unter anderem die Flexibilität der bestehenden Rahmenwerke genutzt und entlasten die Banken administrativ. Das regulatorische Gerüst unseres Finanzsystems wurde nämlich bewusst nicht starr und steif angelegt, sondern flexibel und anpassungsfähig. Dieses Prinzip kennen wir aus der Architektur. In Erdbeben-Risikogebieten wie Japan und der amerikanischen Pazifikküste setzt man Hochhäuser auf elastisch ausgelegte Fundamente. So können sie mit den Erschütterungen mitschwingen, zerreißen aber nicht2. In etwa so sind auch unsere regulatorischen Vorgaben konstruiert. Was uns Aufseher in die Lage versetzt, den Banken in einer Ausnahmesituation entgegenzukommen. Aber nur so weit, wie es die Finanzstabilität zulässt. Flexibilität gewähren wir insbesondere da, wo die Bemühungen der Banken, der Realwirtschaft über diese schweren Zeiten hinwegzuhelfen, ansonsten erschwert würden.

An einer wichtigen Stellschraube haben wir gleich zu Beginn der Pandemie gedreht: am antizyklischen Kapitalpuffer. Wir haben diesen Puffer auf null heruntergefahren – und zwar bis mindestens Ende 2020. Nur ein gutes halbes Jahr zuvor hatten wir den Puffer überhaupt zum ersten Mal nach oben geschraubt: Und zwar hinauf auf 0,25 Prozent zum III. Quartal 2019. Außerdem erlauben wir den Banken, unter bestimmten Voraussetzungen auch weitere Kapitalpuffer aufzulösen – Puffer, die sie an besseren Tagen aufgebaut haben. Die Grundidee dahinter ist simpel: Regulatorische Vorgaben sollten Banken in Krisenzeiten nicht dazu zwingen, über das notwendige Maß hinaus auf die Bremse zu treten. Damit würde der Abschwung der Realwirtschaft nur weiter beschleunigt. Prozyklizität nennt man diesen ungewollten Effekt. Besser also, die Pferde saufen wieder, wie es der frühere Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller einmal so schön plastisch formuliert hat. Dann müssen sie aber von irgendwoher Wasser bekommen. Allerdings kann die Quelle nicht unendlich sprudeln, sprich: die Institute dürfen nicht unbegrenzt Kredite vergeben, ansonsten gerieten sie in Kalamitäten. Daher wurden seinerzeit auch Ausschüttungssperren in die Puffer eingebaut. Von denen sind aber die deutschen Banken noch weit entfernt.

Wir haben derzeit im gesamten deutschen Bankenmarkt noch über 150 Milliarden Euro Überschusskapital.

Natürlich steht seit Beginn der Corona-Krise auch die Frage im Raum, ob uns eine systemische Fianzkrise droht. Zwar zeigte unser COVID 19-Stresstest, den wir mit der Deutschen Bundesbank durchgeführt haben, dass selbst im schärfsten angenommenen Szenario der Bankensektor ausreichend kapitalisiert ist. Und das, obwohl Gegenmaßnahmen, die die Institute selbst ergreifen können, und auch die Auswirkungen der verschiedenen staatlichen Hilfsprogramme nicht berücksichtigt wurden. Ich gebe aber zu bedenken, dass wir uns hier in einer Welt der Wenn-Dann-Szenarien bewegen – und nicht in der konkreten Wirklichkeit. Wir tun daher gut daran, die Entwicklung der Institute weiterhin genau im Blick zu behalten. Und immer wieder reden wir ihnen ins Gewissen, möglichst viel Kapital im System zu halten. Würden die Banken ihre Kapitalbasis durch unangemessene Dividendenzahlungen oder Gewinnausschüttungen weiter auszehren, dann wäre das in der gegenwärtigen Lage nicht vermittelbar.

Zu welchen Kreditausfällen die COVID-Pandemie noch führen wird, kann derzeit niemand genau vorhersagen. Dass Kreditausfälle deutlich ansteigen werden, dürfen wir als gesetzt ansehen. Ich persönlich gehe davon aus, dass dies in mehreren Wellen geschehen und sich über die nächsten ein bis zwei Jahre hinziehen wird. Eine systemische Bedrohung des Finanzsektors insgesamt sehe ich derzeit nicht. Diese Aussage gilt aber nur für die Kreditwirtschaft im Aggregat. Für einzelne Institute könnte es sehr wohl eng werden.

Die Sicherheit des Finanzsystems hat für uns nun einmal oberste Priorität – und weil wir uns robuste Institute wünschen, werden wir nach dem Ende der Pandemie schrittweise die Zügel anziehen und zum aufsichtlichen Normalzustand zurückkehren. Alle Bankvorstände, die deshalb Schweißattacken erleiden, kann ich beruhigen. Wie gesagt: Wir werden schrittweise vorgehen – und nicht mit einem Paukenschlag zum Status quo ante zurückkehren. Und selbstverständlich werden wir jeden Schritt klar gegenüber der Industrie kommunizieren.

Meine Damen und Herren,
das akute Krisenmanagement mag momentan noch immer Priorität haben, trotzdem dürfen wir auch andere, grundlegendere Problemstellungen nicht aus dem Blick verlieren. Und so sehen wir, dass die meisten deutschen Banken nach wie vor noch die eine oder andere Hausaufgabe zu erledigen haben. Ganz oben auf der Agenda steht eine – über die Branche hinweg – mangelnde Profitabilität. So wie vor allem in Südeuropa notleidende Kreditportfolien die Institute belasten, leiden die deutschen Banken schon seit geraumer Zeit unter einer immensen Ertragsschwäche. Was vor allem daran liegt, dass immer noch rund 70 Prozent ihrer Erträge aus dem Zinsgeschäft stammen. Der eine oder andere Bankvorstand verweist dann schnell auf das historisch niedrige Zinsumfeld als die Wurzel allen Übels. Aber, ehrlich gesagt: Die Moritat von den niedrigen Zinsen überzeugt nicht ganz. Erstens sind die Gründe für den gegenwärtigen Zustand der deutschen Kreditwirtschaft vielschichtiger. So ist die Zinsspanne der deutschen Banken und Sparkassen schon seit langer Zeit rückläufig – und nicht erst seit die Europäische Zentralbank ihre Zinsen merklich gesenkt hat.

Zweitens haben Banken andernorts in Europa inzwischen deutlich härter an ihrer Performance gearbeitet. Zum Beispiel in Skandinavien. So kommt in Schweden auf 250 Einwohner ein Bankmitarbeiter. In Deutschland reden wir von 150 Einwohnern pro Bankmitarbeiter – wobei dieser im Schnitt nur ein Drittel des Geschäftsvolumens seines schwedischen Kollegen verantwortet. Interessant ist auch die Entwicklung der Cost-Income-Ratio. Während diese hierzulande stetig gestiegen ist, haben die skandinavischen Banken, aber auch die Institute in den Niederlanden, die Cost-Income-Ratio nachhaltig gesenkt. Ausgangspunkt in Skandinavien waren handfeste Bankenkrisen, der Leidensdruck war extrem. Außerdem haben insbesondere die Schweden ein ganz anderes Verhältnis zu virtuellem Banking. In Schweden ist es normal, Geldgeschäfte online abzuwickeln. Von einer solchen Digitalkultur sind wir sogar in deutschen Großstädten noch ein gutes Stück entfernt.

Das darf für unsere Banken aber keine Entschuldigung sein. Wenn sie dauerhaft am Markt bestehen wollen, müssen sie ihre Geschäftsmodelle grundlegend auf den Prüfstand stellen: die Produktpalette, den Vertrieb, die Kundenansprache, interne Prozesse – alles! Nur marginale Veränderungen werden nicht reichen.

Einigen wird dies mit Sicherheit gelingen, anderen nicht, die werden dann aus dem Markt ausscheiden. Was ich aber nicht als Drama ansehe: In einer Marktwirtschaft ist es nicht die Aufgabe der Aufsicht, so etwas von vornherein zu verhindern. Sollte es im Einzelfall bei Banken zu Krisen kommen, müssen wir diese möglichst reibungslos für Kunden und die Finanzstabilität handhaben. Ich würde mir nur wünschen, dass die dringend erforderlichen Bereinigungs- und Restrukturierungsprozesse nicht erst als Kind einer landesweiten Krise vorangetrieben werden, sondern aus eigener Erkenntnis – gerne flankiert durch uns Aufseher.

Analyse neuer Herausforderungen

Meine Damen und Herren,
natürlich ist nicht alles im Alltag eines Aufsehers professionelle Routine. Immer wieder tauchen neue Fragestellungen auf, die wir aufsichtlich bewerten müssen. Dann hätten wir schon gerne eine Kassandra oder einen Laokoon in unseren Reihen, die neue Themenfelder in Sekundenschnelle beurteilen könnten. Allerdings sind Magie und göttliche Gaben bei uns kein Einstellungskriterium.

Dafür arbeiten in der BaFin Kolleginnen und Kollegen mit viel Fachexpertise aus unterschiedlichen beruflichen Hintergründen. Juristen ebenso wie Betriebswirte und Mathematiker, Volkswirte und Verwaltungsexperten. Hinzu kommen in jüngster Zeit verstärkt auch Menschen mit einer technischen Ausbildung und Know-how in IT. Denn der große Game Changer in der Finanzwelt ist die Digitalisierung. Bereits heute stellen wir fest, wie tiefgreifend technische Innovationen die von uns beaufsichtigten Märkte und Unternehmen verändern und wie sich immer komplexere Aufgaben in immer kürzerer Zeit lösen lassen. Und wir sehen, dass den Unternehmen inzwischen riesige und weiterhin stark wachsende Datenmengen zur Verfügung stehen – Stichwort „Big Data“ (BD) –, die sie durch neue technische Möglichkeiten immer schneller und besser für ihre Aufgaben nutzen können, auch durch selbstlernende maschinelle Systeme – Stichwort „Artificial Intelligence“ (AI).

Von einer vorrevolutionären Situation, in der die Finanzstabilität an sich an allen Ecken und Enden gefährdet ist, sind wir aber einigermaßen weit entfernt. Was aber nicht bedeutet, die Hände in den Schoß zu legen. Als Aufseher müssen wir stets daran denken, die Funktionsfähigkeit, Stabilität und Integrität der Finanzmärkte auch in Zeiten fortschreitender Digitalisierung langfristig sicherzustellen.

Unter anderem deshalb hat sich die BaFin eine Digitalisierungsstrategie gegeben, die im August 2018 veröffentlicht wurde.

Als eine der größten Aufsichtsbehörden der Welt haben wir auch den Ehrgeiz, tektonische Verschiebungen in der Finanzindustrie so umfassend wie möglich zu antizipieren – und unsere Strategien und Arbeitsprozesse entsprechend anzupassen. Nehmen wir den Megatrend Big Data und künstliche Intelligenz als Beispiel. Da stellen sich scheinbar einfache, aber tatsächlich sehr grundlegende Fragen. Lassen Sie mich nur auf zwei Aspekte eingehen.

Der erste Punkt betrifft die Frage, wen wir künftig eigentlich beaufsichtigen: Menschen, Maschinen, Algorithmen – oder alle zusammen? Schon heute sind zum Beispiel Versicherer grundsätzlich in der Lage, Vorgänge wie die Risikobewertung beim Neugeschäft und die Schadenbearbeitung ohne menschliche Beteiligung abzuwickeln. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass zukünftig immer mehr und durchaus auch komplexere Prozesse primär oder gar ausschließlich Maschinen gestützt ablaufen werden.

Was aber geschieht, wenn dabei Fehler auftreten, vielleicht sogar gravierende? Darf sich ein Manager dann hinter den breiten Schultern eines Algorithmus verstecken und sagen: Ich war’s nicht, der Algorithmus war’s.? Als Aufsicht müssen wir das Prinzip der persönlichen Verantwortung konsequent durchsetzen. In der Pflicht müssen weiterhin Menschen stehen. Keine Maschinen, keine mathematischen Formeln. Personale und nachprüfbare Verantwortung mit notwendiger Innovation auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz sinnvoll zu kalibrieren, ist allerdings keine triviale Aufgabe. Da haben wir noch eine Menge Gedankenarbeit und politischer Abwägung vor uns.

Eine andere zentrale Frage lautet: Wie gehen wir mit neuen Marktteilnehmern um, die digitale Innovationen und Algorithmen besonders effizient einsetzen, effizienter jedenfalls als viele klassische Banken oder Versicherer? Ich denke hier vor allem an große Online-Plattformanbieter wie Google oder Amazon. Diese Konzerne haben ihre Geschäftsmodelle schon lange auf das Sammeln und Auswerten großer Datenmengen hin ausgerichtet.

Und sie bieten ihren Kunden eine ganze Palette an Waren und Dienstleistungen an – aus einer Hand in kompakten Ökosystemen. Im Prinzip sind solche Bigtechs längst in der Lage, auch Finanzdienstleistungen im großen Stil in ihr Portfolio aufzunehmen – und sie tun es auch bereits. Insbesondere im Zahlungsverkehr, aber zunehmend auch in angrenzenden Bankdienstleistungen. Mit letzter Konsequenz bearbeiten diese Firmen die europäischen Finanzmärkte aber noch nicht. In den USA und insbesondere in Asien sieht das schon ganz anders aus. Und es wäre naiv, anzunehmen, dass die Bigtechs ausgerechnet um die europäischen Finanzplätze in alle Ewigkeit weiterhin einen Bogen machen werden.

Was aber würde ein massiver Markteintritt dieser Unternehmen für uns bedeuten? Müssten wir sie etwa komplett unter unsere Aufsicht stellen und nicht nur dann, wenn sie erlaubnispflichtige Finanzdienstleistungen anbieten? Sicher nicht die Bigtechs als Gesamtkonzerne, aber eventuell einige ihrer spezifischen Aktivitäten und deren Rückwirkungen auf das Marktgeschehen. Das tun wir übrigens in der Wertpapieraufsicht bereits seit geraumer Zeit. Zum Beispiel bei Industrieunternehmen, deren Anteile am geregelten Markt zum Handel zugelassen sind. Als Unternehmen beaufsichtigen wir sie nicht.

Gleichwohl gelten aber für sie - etwa als Emittenten - Ad-hoc- oder sonstige Publikationspflichten. Logischer Anknüpfungspunkt sind hier also bestimmte Aktivitäten, nicht die Unternehmen als Ganzes. Auf Basis dieser Logik muss der aufsichtliche Instrumentenkasten auch gegenüber den Bigtechs erweitert werden, die politische Diskussion darüber hat in Europa und in Deutschland bereits begonnen.

Abschließend möchte ich auch noch einen kurzen Blick auf die dunkle Seite der Digitalisierung werfen. Und zwar auf Risiken für die IT-Sicherheit, die sowohl von internen IT-Problemen in den Unternehmen wie auch von gezielten Hackerangriffen ausgehen können. Ob wir wollen oder nicht, IT-Sicherheit wird zu einem zentralen Baustein auch der Finanzstabilität. Wir haben hier frühzeitig Pflöcke eingeschlagen, unter anderem durch die Veröffentlichung aufsichtlicher Anforderungen an die IT-Sicherheit von Banken, Versicherern und Kapitalanlagegesellschaften. Dadurch haben wir auch wichtige Impulse für die derzeit laufende europäische Diskussion zu diesem Thema setzen können.

Meine Damen und Herren,

ich bin nun am Ende meiner kurzen Tour d’Horizon durch einige Herausforderungen, die uns als Aufsicht im Zuge der Digitalisierung erwarten. Selbstverständlich könnte ich noch über zahlreiche weitere Zukunftsthemen sprechen. Etwa über den Umgang mit dem Thema Nachhaltigkeit oder den demographischen Wandel. Aber dann, so fürchte ich, würde meine Rede tatsächlich den Umfang eines antiken Epos einnehmen. Und das möchte ich auch mit Blick auf die Uhr vermeiden. Aber gleich besteht ja noch die Möglichkeit zur Diskussion. Darauf freue mich schon jetzt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

Fußnote:

  1. 1 Laokoon warnte die Trojaner vor dem unheilvollen Danaergeschenk: „Timeo Danaos et dona ferentes“ (lat.: Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen).
  2. 2 Aus Bachmann, Hugo: „Warum Hochhäuser nur schwanken“, aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 24. März 2011, abgerufen am 7. Oktober 2020.

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