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Erscheinung:22.10.2020 „Neue Herausforderungen 2020/2021“

Rede des Präsidenten der BaFin, Felix Hufeld, am 22. Oktober 2020 beim beim Bayerischen Finanzgipfel 2020 der Süddeutschen Zeitung in München

Es gilt das gesprochene Wort.

Meine Damen und Herren,

vom vielleicht bayrischsten aller Bayern, Karl Valentin, soll folgender Spruch stammen: „Sicher ist, dass nichts sicher ist.“ Ein Satz, der das Jahr 2020 treffend zusammenfasst. So dürften im Januar, als ich gefragt wurde, ob ich beim Bayerischen Finanzgipfel über die Herausforderungen der Aufsicht 2020 und 2021 sprechen könne, viele Menschen Corona bloß für ein mexikanisches Bier gehalten haben. Etwas, das man hier in München nur hinter zugezogenem Vorhang trinken kann. Mittlerweile steht Corona leider vor allem für viele Kranke und Tote – und für schwere wirtschaftliche Turbulenzen. Und so ist manche Herausforderung, die uns Anfang des Jahres noch als besonders wichtig erschien, zumindest vorübergehend in den Hintergrund getreten.

1. Finanzindustrie und Aufsicht in der COVID 19-Pandemie

Ich denke, kaum ein Ereignis seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat den Alltag von Millionen Menschen so verändert wie die COVID-Pandemie und der Kampf gegen ihre medizinischen und wirtschaftlichen Folgen. Auch wir Aufseher mussten wieder in den Krisenmodus schalten.
Aber anders als bei der Finanzkrise 2007/2008 sitzen Banken und Wertpapierunternehmen nun nicht auf der Anklagebank. Auch sie spüren die Auswirkungen eines riesigen exogenen Schocks, der quasi über Nacht über die gesamte Gesellschaft hereingebrochen ist. In der aktuellen Krise helfen die Banken, um die Auswirkungen der Pandemie auf die Realwirtschaft abzumildern. Und zwar schlicht und ergreifend, indem sie ihrer klassischen Rolle nachkommen: nämlich Kreditgeber zu sein, Mittler zwischen Kapitalgebern und Kapitalnehmern.

Diese Aufgabe haben die meisten Institute bislang gut gemeistert. Drei relevante Gruppen von Akteuren auf der öffentlichen Seite haben das Fundament dafür gelegt: Regierungen und Parlamente, die umfangreiche Hilfspakete geschnürt haben, Zentralbanken, die mit weitreichenden geldpolitischen Entscheidungen für Liquidität am Markt gesorgt haben, und die internationale Gemeinschaft der Aufseher, die eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen haben, um den Banken in der Krise den Rücken zu stärken. Auch die BaFin ist frühzeitig aktiv geworden.

Unter anderem haben wir - zunächst bis zum Jahresende - den antizyklischen Kapitalpuffer wieder auf null Prozent herabgesetzt und den Banken damit mehr Spielraum bei der Bewältigung der coronabedingten Belastungen verschafft. Damit senden wir eine klare Botschaft: Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, dass die Banken ihre eigenen und die bereitgestellten öffentlichen Mittel zügig dorthin leiten können, wo sie gebraucht werden. Das derzeitige Set an regulatorischen Anforderungen enthält weitere Puffer. In schlechten Zeiten – und eine solche erleben wir gerade – können die Banken diese Puffer nutzen – zum Beispiel für die Kreditvergabe. In gewissen bewusst gesetzten Grenzen allerdings. Von denen sind aber die deutschen Banken noch weit entfernt. Wir haben derzeit im gesamten deutschen Bankenmarkt noch deutlich mehr als 100 Milliarden Euro Überschusskapital.

Um Banken und andere Unternehmen darüber hinaus zu unterstützen, haben wir - und andere Aufsichtsbehörden - die Flexibilität der bestehenden Rahmenwerke genutzt. Wir sind mehr als einmal an die Grenzen dessen gegangen, was wir mit Blick auf die Finanzstabilität gerade noch für vertretbar halten, aber nicht darüber hinaus. Unter anderem beschränken wir Informationsanfragen derzeit auf ein verantwortbares Minimum und haben geplante Stresstests verschoben.

Ein Ansatz, der sich bislang bewährt hat. So konnte die deutsche Bankenwelt der Krise bisher standhalten. Zumindest „Stand jetzt“. Aber auch wenn die Krise noch eine Weile anhält und die Konjunktur weiter einbricht, müssen wir nicht gleich den Panik-Knopf drücken. Das hat auch ein COVID 19-Stresstest von BaFin und Deutscher Bundesbank gezeigt. Demnach würde in einem Szenario eines schwereren Einbruchs des Bruttoinlandsproduktes in Höhe von -10,8 Prozent die durchschnittliche harte Kernkapitalquote der sogenannten weniger bedeutenden deutschen Institute um 4,7 Prozentpunkte auf 11,2 Prozent absenken. Die wären aber selbst dann im Schnitt noch ausreichend kapitalisiert. Aber, wie gesagt: Es handelt sich hier um Szenariobetrachtungen und um den Bankensektor insgesamt – für einzelne Banken kann es sich durchaus anders entwickeln. Wir als Finanzaufsicht tun daher gut daran, die Entwicklungen weiterhin genau zu beobachten und nachdrücklich dafür zu werben, möglichst viel Kapital im System zu halten. Zu welchen Kreditausfällen die COVID-Pandemie noch führen wird, kann derzeit niemand seriös genau vorhersagen.

Dass Kreditausfälle deutlich ansteigen werden, dürfen wir als sicher unterstellen. Ich persönlich gehe davon aus, dass dies in mehreren Wellen geschehen und sich über die nächsten ein bis zwei Jahre hinziehen wird. Eine systemische Bedrohung des Finanzsektors sehe ich derzeit nicht, bedrohliche Situationen für einzelne Institute aber sehr wohl.

Unser ceterum censeo lautet, dass die Institute auch im Krisenmodus an ihrer Ertragssituation arbeiten müssen. Defizite, die die Banken und Sparkassen schon vor der Krise hatten, verlieren durch die Pandemie nicht an Brisanz. Im Gegenteil: Sie werden tendenziell noch verschärft. Deshalb müssen Bankmanager weiter auf ihre Kosten und Strukturen achten. Hier gibt es durchaus noch einiges zu tun. In anderen Ländern ist man da weiter, das zeigt uns ein Blick in Europas Norden. In Schweden etwa kommt auf 250 Einwohner ein Bankmitarbeiter. In Deutschland zählen wir 150 Einwohner pro Bankmitarbeiter - wobei dieser im Schnitt nur ein Drittel des Geschäftsvolumens seines schwedischen Kollegen verantwortet. Aufschlussreich ist auch ein Blick auf die Entwicklung der Cost-Income-Ratio.

Während diese hierzulande stetig gestiegen ist, haben die skandinavischen Banken, aber auch die Institute in den Niederlanden, die Cost-Income-Ratio nachhaltig gesenkt.

Wie konnte das gelingen? Harte Einschnitte auf der Kostenseite haben dabei sicher eine Rolle gespielt. Hinzu kommen kulturelle Aspekte. In Skandinavien haben sich Finanztransaktionen bereits in einem deutlich höheren Maße in die virtuelle Welt verlagert, was den Banken viele Einsparmöglichkeiten eröffnet. In Schweden zum Beispiel gehen nur noch wenige zum Bankschalter oder zahlen mit Bargeld. Versuchen Sie einmal, in Stockholm oder Göteborg eine Zeitung mit Bargeld zu bezahlen. Das könnte schwierig werden. In Deutschland sieht das anders aus. Hier war bislang Cash der King. Deshalb lassen sich nicht alle Entwicklungen 1:1 übertragen. Aber die Coronakrise sorgt auch in Deutschland für einen Bewusstseinswandel, auf dem die Institute aufsetzen können.

Wie sieht es bei den Versicherern in den Zeiten von Corona aus – abgesehen von der bayrischen Lösung für Ansprüche aus der Betriebsschließungsversicherung? Ich denke, das Kernproblem ist und bleibt das Niedrigzinsumfeld. Derzeit beaufsichtigen wir rund 20 Lebensversicherer und 36 Pensionskassen intensiv, weil sie vertragliche Verpflichtungen möglicherweise nicht dauerhaft erfüllen können.

Geldpolitische Maßnahmen wie das Pandemie-Notfallankaufprogramm der Europäischen Zentralbank in Höhe von 750 Milliarden Euro helfen möglicherweise den Trägerunternehmen von Pensionskassen, so dass sie den Pensionskassen finanziell eher unter die Arme greifen können. Gleichzeitig manifestiert sich aber wiederum das Niedrigzinsumfeld. Und Marktzinsen an beziehungsweise unter der Nulllinie werden vor allem dann zum Problem, wenn da eine Lücke zu den vertraglichen Garantiezinsen klafft. Daher appellieren wir an die Versicherer, sehr genau deren Höhe abzuwägen – und zwar unabhängig davon, ob und wann der Verordnungsgeber den Höchstrechnungszins ändert.

Und wie ist die Lage an den Wertpapiermärkten? Dort haben wir zu Beginn der Pandemie von circa Mitte März bis Anfang April Kursverluste und Mittelabflüsse bei Fonds gesehen – in Kombination mit einem nahezu vollständigen Austrocknen einiger Teilsegmente in den Kapitalmärkten. In diesem Zeitraum standen wir am dichtesten am Abgrund und einem Déjà-vu der Finanzkrise 2007/2008 ff. Glücklicherweise haben die weiterreichenden Unterstützungsmaßnahmen auf fiskalischer und Zentralbankseite bereits im Verlauf des April zu einer deutlichen Beruhigung drohender Liquiditätsengpässe beigetragen.
Aufgrund dieser und vieler vergleichbarer früherer Erfahrungen raten wir Assetmanagern, ihre Liquidität mit Hilfe neuer Instrumente besser abzusichern. Seit Ende März erlaubt das Kapitalanlagegesetzbuch Fondsanbietern, auf drei neue Weisen auf Krisen zu reagieren: Rückgabefristen, Rücknahmegrenzen (Redemption Gates) und Swing Pricing. Im März, unmittelbar nach Corona-Ausbruch, hatte sich meine Kollegin und BaFin-Vizepräsidentin Elisabeth Roegele in dieser Sache an die Assetmanager gewandt. Danach hatte sich die Fondsbranche nebst Kreditwirtschaft, Verwahrern und Depotbanken mit uns an einen Tisch gesetzt und eine Arbeitsgruppe gegründet. Hier geht es zum Teil um sehr komplexe technische Fragen und Prozesse, bei denen der Teufel wie so oft im Detail steckt. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Arbeitsgruppe bald zu tragfähigen Lösungen kommt - und wir die Chancen, die die neuen Tools bieten, auch wirklich nutzen können.

Hin und wieder kommen mir Vorschläge zu Ohren, die krisenbedingten aufsichtlichen Maßnahmen hätten sich doch hervorragend bewährt und könnten zum Dauerzustand werden und sogar in einer weitreichenden Deregulierung münden. Da kann ich nur sagen: Nein, das wäre ein riskanter Weg!

Wenn die Jahre nach der Finanzkrise 2007/2008 eines gezeigt haben, dann das: Die verschärften Anforderungen der Nachkrisenregulierung haben die Finanzindustrie deutlich widerstandsfähiger gemacht, was sich jetzt als segensreich erweist. Unsere Botschaft ist daher klar und simpel: Wenn die Coronakrise überwunden ist, werden wir selbstverständlich zum aufsichtlichen Status quo ante zurückkehren. Und zwar, weil wir ein dauerhaft widerstandsfähiges Finanzsystem wollen. Um eines müssen Sie sich aber keine Sorgen machen. Wir werden den Status quo ante nicht über Nacht und mit einem Big Bang wieder in Kraft setzen. Wir werden behutsam Schritt für Schritt vorgehen und sehr intensiv mit der Industrie kommunizieren.

Überprüfung grundlegender regulatorischer Regelwerke

Meine Damen und Herren,

ein riskanter Rückfall in die Deregulierung ist das eine. Aber so wichtig die Nachkrisenregulierung auch war und ist, so wenig sträube ich mich gegen vernünftige Anpassungen in Sachfragen. Unsere rechtlichen Grundlagen sind nicht die in Stein gemeißelten unveränderlichen zehn Gebote, die uns Moses auf dem Berg Sinai überreicht hat.

Und bei neuen Vorgaben gilt ohnehin die bewährte Praxis, sie in Reviews auf Kinderkrankheiten hin zu überprüfen und gegebenenfalls nachzujustieren – so wie dies aktuell bei der Finanzmarktrichtlinie MiFID II erfolgen soll. Bereits Anfang 2019 hat das Bundesfinanzministerium (BMF) die Marktteilnehmer dazu konsultiert. Ergebnis ist ein Positionspapier mit einigen Überarbeitungsvorschlägen. Darin finden sich unter anderem Forderungen nach der Möglichkeit eines freiwilligen Verzichts auf die Telefonaufzeichnung von Beratungsgesprächen und der Verschiebung bestimmter ex ante-Kosteninformationen.

Unreflektierte Pauschalkritik an der MiFID II ist allerdings nicht angebracht. Ich halte deren Ziele nach wie vor für richtig. Es klafft strukturell eine Wissenslücke zwischen Unternehmen, die Finanzprodukte anbieten, und Verbrauchern. Klar ist aber auch, dass Regelungsdichte und Komplexität nicht so ausufern dürfen, dass es für Unternehmen unattraktiv oder fast unmöglich wird, Finanzprodukte rechtssicher anzubieten. Damit wäre auch Verbrauchern nicht gedient.

Ein anderes Thema ist die Finalisierung des Basel III-Pakets. Konkret geht es darum, das Paket, das wir vor gut zwei Jahren nach harten Verhandlungen im GHOS, dem Lenkungsgremium des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht, beschlossen haben, in hartes europäisches Recht zu übersetzen. Aufgrund der COVID 19-Pandemie müssen die entsprechenden Arbeiten nunmehr erst 2023 abgeschlossen werden.

Klar ist, dass negative Auswirkungen auf die Finanzierung der Realwirtschaft vermieden werden sollen. Für Deutschland ist zudem wichtig, dass der Proportionalitätsgrundsatz berücksichtigt wird, dass man also die Regulierung auf Geschäftsmodelle und deren Risiken abstimmt. Hier hat sich die deutsche Finanzaufsicht immer sehr deutlich positioniert. Wir haben dabei auch die kleinen, nicht international tätigen Banken im Blick, für die die Baseler Regeln nicht originär geschrieben werden. Bei den Diskussionen, die uns nun dazu in den nächsten Monaten bevorstehen, wird es deshalb vor allem um die Frage gehen, wie wir das Paket sinnvoll in europäisches Recht umsetzen.

2. Drei Megatrends, die die Finanzwelt verändern

Meine Damen und Herren,

zum Schluss lade ich Sie noch auf eine kurze Reise ein – und zwar in die Themenwelt ohne Corona. Gäbe es die Pandemie nicht, dann spräche ich heute im Wesentlichen über drei Megatrends: die fortschreitende Digitalisierung, die zunehmende Bedeutung des Nachhaltigkeitsgedankens und die Tatsache, dass wir in einer älter werdenden Gesellschaft leben. All diese Themen haben durch Corona nicht an Bedeutung verloren, sie sind allerdings gerade nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Finanzaufsicht und Unternehmen müssen sich trotzdem intensiv mit diesen Themen auseinandersetzen. Lassen Sie mich daher eine kleine tour de force wagen.

a) Digitalisierung

Noch kann niemand sagen, ob die digitalen Träume von einer von Intermediären losgelösten Finanzwelt nur mancher Leute Wunschvorstellung oder doch realistische Zukunftsszenarien sind. Viel wird davon abhängen, in welche Richtung die Politik die Weichen in den nächsten Jahren stellen wird.

Alle Fans der grenzenlosen Freiheit auf den Finanzmärkten müssen nun aber ganz stark sein: Erst vor gut einem Monat hat die Europäische Kommission ihre Vorstellungen dargelegt, wie Finanzinnovationen wie Krypowerte künftig besser regulatorisch und aufsichtlich erfasst werden können. In Deutschland haben wir auf diesem Gebiet schon länger Tempo gemacht. So hat die BaFin Bitcoins und vergleichbare virtuelle Währungen bereits im Dezember 2011 aufsichtlich bewertet.1 Und seit Anfang 2020 sind Kryptowerte im Kreditwesengesetz definiert und als Finanzinstrumente eingestuft. Seitdem wird auch das Kryptoverwahrgeschäft reguliert und von uns beaufsichtigt.

Wir bewegen uns hier in einem sehr innovativen Umfeld. Es stellen sich eine Reihe scheinbar einfacher und doch sehr grundsätzlicher Fragen, zum Beispiel: Wen beaufsichtigen wir eigentlich in Zukunft? Menschen, Maschinen, Algorithmen – oder alle drei?

Schon heute sind beispielsweise Versicherer in der Lage, Vorgänge wie die Risikobewertung beim Neugeschäft und die Schadenbearbeitung ohne menschliche Eingriffe abzuwickeln, insbesondere bei standardisierten, aber zunehmend auch bei komplexeren Sachverhalten.

Dass künftig - mit der fortschreitenden Durchdringung der Industrie mit künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen - noch viele andere Prozesse an Computer oder Algorithmen übertragen werden können, liegt auf der Hand. Was passiert aber, wenn Fehler auftreten? Darf ein Unternehmensvorstand dann sagen: „Ich war’s nicht, der Algorithmus war’s“? Ich sage klar: nein! Die Letztverantwortung muss beim Management bleiben, sprich beim Menschen.

Eine andere Frage lautet: Wie lange haben aufsichtliche Genehmigungen in den Zeiten von künstlicher Intelligenz Bestand, beispielsweise bei der Prüfung genehmigungspflichtiger Modelle? Ein Modell, das Aufseher heute abnehmen, kann morgen ganz anders aussehen. Ich gehe davon aus, dass wir mittelfristig die Logik unserer Prüftätigkeit grundsätzlich verändern müssen.

b) Sustainable Finance

Auch das Thema Nachhaltigkeit wird weiter an Bedeutung gewinnen. In Regulierung und Aufsicht stehen aktuell insbesondere Fragen des Klimaschutzes im Fokus. Denn auch Banken, Versicherer und Wertpapierunternehmen können in vielerlei Hinsicht von klimabezogenen Risiken betroffen sein. Um den von uns beaufsichtigten Unternehmen eine Orientierungshilfe im Umgang mit „Nachhaltigkeitsrisiken“ zu geben, haben wir im vergangenen Jahr ein Merkblatt veröffentlicht. Sowohl für die Industrie als auch für uns selbst besteht eine wesentliche Herausforderung darin, Nachhaltigkeitsrisiken zu durchdringen, sie zu quantifizieren und damit managebar zu machen.

Einen entscheidenden Meilenstein hat die Europäische Union am 22. Juni dieses Jahres gesetzt. An jenem Montag wurde die Taxonomie-Verordnung im EU-Amtsblatt veröffentlicht. Damit hat die EU die weltweit erste „grüne Liste“ für nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten eingeführt. Konkret bedeutet dies – wie die Europäische Kommission schreibt – „ein neues gemeinsames Klassifizierungssystem mit einheitlichen Begrifflichkeiten, das Anleger überall verwenden können, wenn sie in Projekte und Wirtschaftstätigkeiten mit erheblichen positiven Klima- und Umweltauswirkungen investieren wollen“. Eine Pflicht zur Investition in Nachhaltigkeitsprojekte oder Kapitalerleichterungen für grüne Investments verlangt die Taxonomie nicht. Ich hielte das auch für falsch. Man darf Finanzgebaren, Finanzprodukte oder Institutionen nicht allein aufgrund eines grünen Faktors privilegieren. Ob und wie viel Eigenkapital Finanzunternehmen für Kredite oder Investitionen hinterlegen müssen, darf nur von deren inhärenten Risiken abhängen und nicht davon, ob wir die Mittelverwendung ökologisch gut oder schlecht finden. Ansonsten droht nicht nur eine Fehlallokation von Kapital, sondern die verdeckte Programmierung der nächsten Finanzkrise. Und das wäre das Gegenteil von nachhaltigem Handeln.

c) Demographischer Wandel

Ein weiterer Megatrend ist der demographische Wandel. Wenn immer mehr Menschen immer älter werden und gleichzeitig wenig Kinder geboren werden, dann verändert das selbstverständlich auch die Anforderungen an die Finanzindustrie und deren Produkte und Prozesse. Wie komplex die Herausforderungen hier sein werden, ist mir im vergangenen Jahr bei der G-20-Tagung in Tokio bewusst geworden.

Japan mit seiner niedrigen Geburtenrate und seiner hohen Lebenserwartung ist ein spannendes Experimentierfeld. Sehr früh zeigt sich dort, wie sehr Banken und Versicherer ihre Geschäftsmodelle anpassen müssen, um älter werdenden Menschen eine lebenslange Teilhabe an den Finanzgeschäften zu ermöglichen. Wir in Europa müssen mehr Zeit und Energie investieren, um Antworten auf die Fragen zu entwickeln, die sich auch uns unerbittlich stellen werden. Das betrifft sowohl das Design von Produkten als auch deren Beratungs- und Verkaufsprozesse – insbesondere in einer immer digitaler werdenden Welt.

Wie beispielsweise können wir verhindern, dass eine digitale Mauer zwischen Alten und Jungen entsteht, was den Zugang zu Finanzdienstleistungen betrifft? Vielleicht müssen wir bessere Methoden entwickeln, um ältere Menschen gezielter an digitale Technologien heranzuführen und ihnen helfen, diese zu nutzen.

3. Abschluss

Meine Damen und Herren,

soweit unsere kurze Reise in die Themenwelt ohne Corona. Eine Reise, die irgendwie an einen Kinoklassiker aus den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erinnert: „Back to the future“. Denn künftig werden wir es stärker noch als vorher mit den genannten Megatrends zu tun haben, egal, wann die Pandemie vorbei ist. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf Ihre Fragen.

Fußnote:

  1. 1 Die aufsichtliche Bewertung erfolgte mit Aufnahme des Bitcoin und anderen sogenannten virtuellen Währungen in das Merkblatt „Hinweise zu dem Gesetz über die Beaufsichtigung von Zahlungsdiensten (Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz – ZAG)“ vom 22. Dezember 2011 (siehe BaFinPerspektiven I 2018).

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