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Porträtaufnahme von Dr. Frank Grund, Exekutivdirektor Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht. © Bernd Roselieb

Erscheinung:17.09.2020 Aktuelle Fragen der Versicherungsaufsicht

Vortrag von Dr. Frank Grund, Exekutivdirektor Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) am 17. September 2020 in Düsseldorf, beim 17. MCC-Kongress Insurance Today and Tomorrow

Es gilt das gesprochene Wort.

Meine Damen und Herren,

der Zeithorizont dieser Veranstaltung – Insurance Today and Tomorrow – lässt sich mit ihren beiden Schwerpunkten – Digitalisierung und Corona – zu unzähligen Fragen kombinieren.

Zum Beispiel: Wie entwickelt sich die Pandemie ab morgen? Das beantwortet Ihnen besser ein Virologe.

Oder: Wie viel Digitalisierung braucht der Mensch in der heutigen Zeit? Hier will ich der fast gleichnamigen Diskussionsrunde nicht vorgreifen.

Auf vier Fragen aber habe ich Antworten mitgebracht. Erstens: Wie geht es den Versicherungsunternehmen in der aktuellen Corona-Lage?

Zweitens: Welche Art von Supervisory Technology nutzt die BaFin heute schon oder will sie künftig nutzen?

Drittens: Nach welchen Kriterien beaufsichtigen wir heute die Insurtechs, also die selbst erklärten Geschäftsmodelle von morgen?

Und schließlich viertens: Wer trägt die Schäden künftiger Pandemien?

Steigen wir mit der ersten Frage zur Lage der Versicherungswirtschaft gleich ein. Als Aufsicht stellen wir fest: Corona beeinträchtigt nicht alle Versicherungsgesellschaften gleichermaßen. Auf der Passivseite sind vor allem die Anbieter von Kredit- und Kautionsversicherungen, Veranstaltungsausfallversicherungen und Betriebsschließungsversicherungen betroffen. Je nach Deckungsumfang entschädigen sie die Versicherten für Schäden, die mit der Pandemie einhergehen. Wir sehen derzeit nicht, dass dieses Schadenaufkommen die betroffenen Versicherer überfordert.

Ebenso wenig beobachten wir bisher Probleme in Sachen Liquidität. Die Liquiditätsausstattung stand in der Vergangenheit ja kaum im Fokus, da sich Versicherer eines permanenten Zuflusses von Prämien sicher sein konnten.

Corona hat nun diesen Zusammenhang zwischen dem Neugeschäft beziehungsweise den Abgängen eines Versicherers und seiner Liquiditätsausstattung gewissermaßen akzentuiert.

Das Prinzip ist klar: Je mehr Geld reinkommt und je weniger Geld abfließt, desto flüssiger bleibt eine Versicherungsgesellschaft.

Werfen wir also einen Blick auf die Neukundenseite. Fest steht, dass das Social Distancing dem Neugeschäft nicht guttut. Es heißt nicht ganz zu Unrecht, dass Versicherungen verkauft werden und nicht gekauft. Dafür muss der Verkäufer aber erst einmal an den Kunden herankommen.

Deutlich beeinträchtigt sind die von COVID-19 direkt betroffenen Sparten. Wer sicherheitshalber keinen Urlaub bucht, nimmt auch keine Reiseversicherung dazu.

Auch die Anbieter der eher erklärungsbedürftigen und beratungsintensiven Produkte Lebensversicherung und Krankenversicherung berichten tendenziell über Rückgänge.

Eine Kündigungswelle im Bestand wäre ebenfalls problematisch für den Versicherungssektor. Sie wäre für Versicherer im Endeffekt das, was der Bank-Run für Banken ist – ein bedrohlicher Geldentzug.

Dass ein Versicherer bis zum Wirksamwerden der Kündigung unter Umständen noch ein paar Monatsbeiträge erhält, verschiebt sein Existenzproblem lediglich nach hinten. Aktuell beobachten wir so etwas nicht. Und es droht nach meiner Einschätzung auch nicht.

Was wir beobachtet haben, waren Stornierungen und Beitragsstundungen sowie Freistellungen bei Lebensversicherungen. Dieser Trend hat sich aber bereits deutlich abgeschwächt und ist derzeit im Vergleich zum Gesamtbestand vernachlässigenswert.

Die angespannte Lage mancher Pensionskassen und Lebensversicherer hat Corona weiter verschärft. Wie Sie wissen, macht ihnen bereits seit Jahren die anhaltende Niedrigzinsphase zu schaffen. Pensionskassen sind besonders hart betroffen, weil sie ausschließlich lebenslange Renten zahlen. Rund 35 von ihnen beaufsichtigen wir intensiv, weil den Kunden hier mittel- bis langfristig Leistungskürzungen drohen, sofern die Träger oder Aktionäre keine zusätzlichen Mittel beisteuern.

Ob aber Träger und Aktionäre Hilfen im erforderlichen Umfang tatsächlich leisten können, hängt auch von ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage ab. Je nach Branche dürfte sich ihre Fähigkeit zur Unterstützung seit Ausbruch der Corona-Pandemie verschlechtert haben.

Als Versicherungsaufsicht haben wir seit Ausbruch der Corona-Pandemie versucht, den Unternehmen soweit entgegenzukommen, wie es gesetzlich möglich und aufsichtlich vertretbar ist. Ein Beispiel waren Fristverlängerungen, die den Unternehmen etwas Luft verschafft haben, um sich auf die neue Herausforderung einzustellen.

Es ging also eher darum, die Unternehmen operativ zu entlasten als auf der Kapitalseite, denn dafür gab es unter Solvency II bereits vor Corona funktionstüchtige Instrumente, die sich in der Krise dann absolut bewährt haben. Die quantitativen Daten, die uns die Versicherungsunternehmen gemeldet haben, zeigen jedenfalls einen erheblichen positiven und stabilisierenden Einfluss der Volatilitätsanpassung auf die Solvenzergebnisse.

Die Corona-Krise hat zudem bei einigen Versicherern das Bedürfnis geweckt, ihre Eigenmittelanforderungen mit Hilfe der Übergangsmaßnahmen schrittweise bis 2032 auf das geforderte Niveau anzuheben. Die BaFin hat die Ende März, Anfang April eingegangenen Anträge auf Inanspruchnahme der Übergangsmaßnahmen wohlwollend geprüft und diese auch rückwirkend zum 31. März 2020 genehmigt.

In weiten Teilen haben sich die BaFin-Mitarbeiter aus dem Home-Office mit diesen Anträgen befasst. Das Home-Office ist ein schönes Beispiel, um zu zeigen, dass Corona einen Einfluss auf die Binnendigitalisierung von Unternehmen und Behörden ausüben kann. In Krisenfällen auf einen Plan B, vielmehr einen Ort B – nämlich das Home-Office – zurückgreifen zu können, hat sich operativ als überaus wertvoll erwiesen.

In ihrem Business Continuity Management müssen Unternehmen aber selbstverständlich auch die Gefahren im Blick behalten, die sich aus dezentralem Arbeiten und abrupter Digitalisierung ergeben können.

Die Bedrohungslage durch Cyber-Risiken sieht nach unseren Erkenntnissen die Hälfte der Versicherungsgesellschaften als leicht erhöht an, ohne Beeinträchtigungen festgestellt zu haben.

Ich bin mir bewusst, dass ich bei „Insurance Today and Tomorrow“ mit einem Home-Office-Boot-Stick natürlich niemanden vom Hocker haue – und auch nicht vom Sofa, was die Teilnehmer daheim angeht. Daher will ich zu meiner zweiten Frage vom Anfang, welche Art von Supervisory Technology uns in unserer Arbeit unterstützen soll, drei andere Beispiele anführen.

Ob bestimmte Analysetools zum Dashboarding schon Suptech sind, will ich gar nicht bewerten. Uns helfen sie aber dabei, das typische Zahlenwerk von Solvency II oder Gegebenheiten auf dem Kapitalmarkt zu visualisieren. Wir können damit von der Einzelunternehmensebene in die Vogelperspektive wechseln und Trends der ganzen Branche besser erkennen.

Außerdem beschäftigen wir uns mit der Frage, wie wir die Fortschritte der Informationstechnik auf dem – untechnisch gesprochen – weiten Feld der künstlichen Intelligenz sinnvoll für unsere Aufsichtstätigkeit nutzen können. Durchaus erfolgversprechend haben wir schon angetestet, ob und wie wir Text-Mining einsetzen könnten, um narrative Berichte IT-gestützt vorauszuwerten. Das ermöglicht dann dem Aufseher, sich viel zielgerichteter mit den Unterlagen auseinanderzusetzen. Am Beispiel der ORSA-Berichte unterziehen wir das Text-Mining derzeit einem Belastungstest im Hinblick auf die Machbarkeit. Verläuft dieser Proof of Concept zufriedenstellend, wollen wir die „Vorauswertung narrativer Berichte mittels Text-Mining“ innerhalb der BaFin, also über meinen Geschäftsbereich Versicherungsaufsicht hinaus, flächendeckend nutzen. Ich hoffe, dass wir das Projekt im nächsten Jahr positiv abschließen können.

Und auch in unserem Kerngeschäft, der Solvenzaufsicht, setzen wir Suptech ein. Der größte Posten in der Solvenzbilanz der Schaden- und Unfallversicherer sind die versicherungstechnischen Rückstellungen. Dazu gehören auch die Schadenrückstellungen. Wir nehmen deren Höhe nicht nur zur Kenntnis, sondern setzen eine Prüfungssoftware ein, um die Auskömmlichkeit der Schadenrückstellungen unter Solvency II zu analysieren. Diese spezielle Reservesoftware wollen wir schrittweise bei immer mehr örtlichen Prüfungen einsetzen, was Corona derzeit leider erschwert.

Meine Damen und Herren: Auch wenn das abgedroschen klingen mag. Eine Software ist immer nur so gut wie der Mensch, der ihre Ergebnisse analysiert. Wenn es uns nur um Mathematik ginge, würden wir einfach blind auf die Rechenergebnisse vertrauen. Das tun wir aber ausdrücklich nicht – weder bei der Prüfung der Schadenrückstellung noch in anderen Bereichen, in denen Big Data zur Anwendung kommt.

Im mehrstufigen Prüfungskonzept Schadenrückstellung 2.0 spielt der menschliche Faktor eine wichtige Rolle. Der Prüfungsablauf umfasst zahlreiche persönliche Gespräche mit den wichtigsten Unternehmensvertretern. Und wenn nicht gerade Corona ist, bestehen wir in bestimmten Fällen auch auf einer Live-Demonstration der Reservierung durch den Aktuar.

Unser Reservegutachten ist am Ende also kein reines Rechenergebnis, sondern ein Suptech-gestütztes Prüfungsurteil von sich tief in den Einzelfall einarbeitenden Fachaufsehern.

Meine dritte Frage lautete: „Nach welchen Kriterien beaufsichtigen wir heute die Insurtechs, also die selbst erklärten Geschäftsmodelle von morgen?“

Der Begriff „Insurtech“ hat sich verselbstständigt und ich gebe zu: Auch ich verwende ihn. Aber eigentlich bin ich kein Freund davon und ich will Ihnen auch gerne sagen, warum nicht.

„Insurtech“ – das suggeriert meines Erachtens, dass etablierte Versicherer von gestern wären und keine digitalen Lösungen mit Mehrwert für den Kunden anzubieten hätten.

Wenn wir das Alter aber mal beiseitelassen und einfach alle innovativen Unternehmen der Versicherungsbranche als Insurtechs bezeichnen, dann kann auch ein Versicherer mit Jahrzehnten an Vorerfahrung ein Insurtech sein.

Außerdem ist die Diskussion ziemlich müßig. Ob ein Unternehmen nun mit dem Etikett eines Insurtechs unterwegs ist oder nicht: Es muss sich am selben Markt behaupten wie die etablierten Unternehmen auch.

Und wer immerzu nur in diesem Kontrast „Insurtechs versus etablierte Unternehmen“ denkt, der übersieht die Wechselwirkungen, die sich auf vielen Ebenen beobachten lassen: Etablierte Versicherer gründen eigene Insurtechs oder sie beteiligen sich an externen Anbietern. Und in vielen Fällen basieren die Angebote etablierter Versicherer mittlerweile auf Softwarelösungen von Fintechs, weil beide Seite beschlossen haben, miteinander zu kooperieren.

Aufsichtlich lassen wir Fintechs, die lediglich als Dienstleister für Versicherungsgesellschaften auftreten, keinesfalls komplett außen vor. Wer Funktionen oder Versicherungstätigkeiten ausgliedert, bleibt dafür verantwortlich, dass alle aufsichtsrechtlichen Vorschriften und Anforderungen eingehalten werden. So steht es unmissverständlich in § 32 Versicherungsaufsichtsgesetz. An gleicher Stelle liest man: Ausgliedernde Versicherer müssen sicherstellen, dass ein solches Fintech mit uns zusammenarbeitet – zumindest hinsichtlich der ausgegliederten Funktionen und Versicherungstätigkeiten.

Für jene Insurtechs, bei denen es sich um echte Risikoträger mit Versicherungslizenz handelt, gelten die gleichen Prinzipien wie für die anderen rund 500 beaufsichtigten Unternehmen auch.

Dieser Prinzipienkatalog umfasst zum Beispiel die Technologieneutralität. Wir haben weder den Auftrag, junge Unternehmen zu fördern, noch sollen wir etablierte Konzerne vor ihnen beschützen. Es wäre schlicht Wettbewerbsverzerrung, wenn wir das täten.

Ein weiteres unserer Prinzipien ist mit der Formel „gleiches Geschäft, gleiches Risiko, gleiche Regel“ treffend umschrieben. Denn sie bedeutet im Umkehrschluss ja auch, dass wir Ungleiches ungleich behandeln. Unser Anknüpfungspunkt ist hier stets das Risiko, das mit der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens einhergeht.

Messen lassen müssen wir uns bei allem, was wir tun – egal, gegenüber wem – am Schutz der Belange von Versicherungsnehmern und Begünstigten.

Meine Damen und Herren: Die Zahlen der fünf Insurtechs mit Versicherungslizenz sind noch nicht durchweg positiv – ihre SFCR-Berichte sind ja öffentlich zugänglich.

Ein negatives Jahresergebnis, eine Bruttoschadenquote über 100 Prozent oder ein vergleichsweise kleines Versichertenkollektiv: Das sind Dinge, die uns auch bei etablierten Versicherern Sorgen bereiten würden. Natürlich sehen wir auch die Wachstumschancen dieser jungen Unternehmen und ihre Anziehungskraft auf Investoren. Trotzdem: Blindes Vertrauen in Businesspläne kann von der BaFin nicht erwartet werden. Das galt im Übrigen schon vor Corona und nach Corona erst recht.

Und dann hatte ich Ihnen zu Beginn meiner Rede noch versprochen, über künftige Pandemien zu sprechen. Wer trägt die Schäden? Die Versicherungswirtschaft alleine wird es nicht können.

Alle sind sich einig, dass Pandemien nicht umfassend versicherbar sind. Sie stellen ein internationales Kumulrisiko dar. Wie soll ein Ausgleich im Kollektiv funktionieren, wenn das ganze Kollektiv in den flächendeckenden Lockdown geht?

Und auch ein Ausgleich über die Zeit setzt zumindest einigermaßen kalkulierbare Zeitabstände zwischen den einzelnen Schadenereignissen voraus. Sonst kann ein Versicherer keine Großrisikenrückstellung ansammeln.1

Man kann Versicherungsgesellschaften nicht vorwerfen, dass sie die unternehmerische Entscheidung treffen, einen bestimmten Versicherungsschutz nicht anzubieten. Wenn eine ganze Branche eine solche Marktlücke lässt und kein Unternehmen – sagen wir – aus Wachstumsstreben hineinstößt, dann spricht das für sich.

Ob und wie sie geschlossen wird, eventuell mit Beteiligung der öffentlichen Hand, das ist eine zutiefst politische Frage – in Deutschland und Europa. Und ich bin nicht derjenige, der sie beantworten kann.

Alle anderen Fragen Ihrerseits nehme ich natürlich gerne entgegen.

Vielen Dank!

Fußnote:

  1. 1 Vgl. § 30 RechVersV

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