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Erscheinung:13.11.2018 Neue Herausforderungen für Aufsicht und Branche

Rede des Exekutivdirektors Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht, Dr. Frank Grund, bei der Jahreskonferenz der Versicherungsaufsicht am 13. November 2018 in Bonn

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren,
auch ich begrüße Sie zur Jahreskonferenz der Versicherungsaufsicht.

Versicherungsaufsicht. Natürlich ist das die Aufsicht über Versicherungsunternehmen. Aber es wird oft vergessen, dass dazu auch die Pensionskassen zählen. Obwohl sie rechtlich selbständige Lebensversicherungsunternehmen sind, weisen sie erhebliche Besonderheiten auf, denen wir Rechnung tragen. Es hat sich daher etabliert, von Versicherern und Pensionskassen zu sprechen. Diesem Sprachgebrauch folgend möchte ich die Gelegenheit nutzen, explizit die Teilnehmer aus beiden Bereichen zu begrüßen. Schön, dass Sie heute hier sind – in dem für uns neuen Umfeld WCCB.

Ob Versicherung oder Pensionskasse: Die Beziehung zur BaFin ist nur scheinbar rein bilateral. In Wahrheit treten zahlreiche „Dritte“ hinzu: Zuallererst natürlich die Versicherungsnehmer (einzeln und im Kollektiv) sowie die Begünstigten in der betrieblichen Altersvorsorge. Ihre Belange zu schützen, ist unser Auftrag. Der Gesetzgeber bestimmt die Regeln in dieser Dreiecksbeziehung und erweitert sie damit auf vier Beteiligte. Weitere „Dritte“ sind Wettbewerber, Dienstleistungsunternehmen sowie die Aktionäre, Mitglieder oder Trägerunternehmen.

Diese Gruppen werden uns auch 2019 begegnen. Schauen wir also heute gemeinsam voraus auf die Schwerpunkte unserer Aufsicht im kommenden Jahr, wie Sie sie in Kürze auch in unserem Aufsichtsprogramm 2019 finden werden. Am 1. Januar wird Solvency II drei Jahre alt. 2019 ist zudem das Vorjahr des Solvency-II-Reviews, bei dem insbesondere die LTG-Maßnahmen für langfristiges Geschäft auf den Prüfstand kommen. Aber auch die Standardformel und die Proportionalität sind Themen, die wir einbringen werden. Die BaFin ist zwar – wie Sie wissen – kein Regulierer, wird sich aber weiterhin aktiv an der Debatte um Solvency II beteiligen. Diese hat ja längst begonnen. Mir ist wichtig, dass Solvency II nicht zerredet wird. Das Aufsichtsregime hat sich im Grunde bewährt, aber man kann es natürlich noch besser machen.

Wichtige Stellschrauben sind aus meiner Sicht:

  • die Berücksichtigung negativer Zinsen bei der Berechnung der Solvenzkapitalanforderung mit der Standardformel,
  • die Rolle der Volatilitätsanpassung einerseits als Krisentool und andererseits als Komponente für langfristiges Geschäft,
  • der Erhalt der Übergangsmaßnahmen für Versicherungsgesellschaften mit langfristigen Verträgen und Zinsgarantien,
  • die bessere Ausgestaltung des Proportionalitätsgedankens. Hierzu gehören Vereinfachungen für die Säule 1 und Anpassungen bei den Berichtspflichten.

Natürlich wird es auch im heutigen Panel zur „Proportionalität“ um Solvency II gehen. Ich möchte aber hervorheben, dass Proportionalität kein Alleinstellungsmerkmal von Solvency II ist. Gerade die EbAV-II-Richtlinie und ihre beabsichtigte Umsetzung in deutsches Recht messen diesem Grundsatz für die betriebliche Altersvorsorge einen hohen Stellenwert zu. Nicht nur die Regulierung, sondern auch unser Aufsichtshandeln muss proportional sein. Für uns bedeutet das, dass sich unsere Aufsicht an der Art, dem Umfang und der Komplexität der Risiken des beaufsichtigten Unternehmens orientieren muss. Bei den Einrichtungen der betrieblichen Altersvorsorge spielt auch die Größe eine Rolle.

Wir müssen das Jahr 2019 nicht zum Jahr der Digitalisierung ausrufen. Die Digitalisierung hat die Versicherungsbranche längst erfasst, ein Ende ist nicht in Sicht. Es wäre falsch davon auszugehen, dass alles, was sich digitalisieren lässt, mittlerweile digitalisiert ist. Nein, dieser Prozess wird noch weitergehen und neue Formen bringen, von denen wir heute noch nichts wissen. Über den Markterfolg von Telematiktarifen, Vergleichsportalen oder Fernbehandlung werden letztlich die Kunden entscheiden.

Von anderen Digitalisierungsprozessen bekommt der Kunde im Regelfall sehr viel weniger mit. Die Dunkelverarbeitung etwa dürfte der Verbraucher nur bemerken, wenn er im Schadenfall keinen persönlichen Sachbearbeiter mehr erreicht, sondern völlig automatisiert sein Geld bekommt. Wenn aber keine menschliche Hand mehr in die Prozesse eingreift und kein menschliches Auge den Vorgängen folgt, nähern wir uns einer Black-Box. Der Grat zwischen „Dunkel-Verarbeitung“ und Black-Box ist schmal – nicht bloß sprachlich. Nur wenn die Dunkelverarbeitung klaren Regeln gehorcht und eindeutige Workflows vorgegeben sind, wenn die Verantwortlichen grundsätzlich noch begreifen, was vor sich geht, kommt Licht in die Dunkelverarbeitung. Nur dann können auch wir von einem ordnungsgemäßen Geschäftsbetrieb ausgehen. Das bedeutet nicht, dass alle Vorstände schnell noch ein Informatikstudium absolvieren müssen. Sie müssen sich aber überlegen, wie sie sich künftig über die Vorgänge in einem automatisierten Versicherungsbetrieb informieren können.

Eine Lösung könnte im Process-Mining liegen. Mit „Mining“ ist hier ausnahmsweise Mal nicht das Schürfen virtueller Währungen gemeint. Process-Mining ist eine Technik des Prozessmanagements, die digitale Spuren in den betrieblichen IT-Systemen rekonstruieren und analysieren kann. Im Ergebnis kommt dabei eine Landkarte mit allen IST-Prozessen eines Betriebs heraus. Diese Karte zeigt neben den ordnungsgemäß laufenden Wegen auch die Irrwege. Hingegen wird es einer ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation nicht gerecht, wenn Verantwortliche nur auf das Prozesshandbuch und SOLL-Datenflüsse verweisen, dabei aber blind sind für die IST-Abläufe.

Ohne Frage bietet die Digitalisierung viele Chancen: Sie kann Prozesse beschleunigen, Kosten senken und die Kommunikation erleichtern – um nur einige Vorteile zu nennen. Dem stehen vielfältige Cyber-Risiken gegenüber. Gefahren gehen nicht nur von Hackern aus, die Daten stehlen und Institutionen lahmlegen können. Gefahren schlummern möglicherweise auch im eigenen Versicherungsbestand – und zwar auf der Deckungsseite. Risiken aus Verträgen, in denen eine Deckung von Cyber-Risiken nicht explizit ein- oder ausgeschlossen wird, nennt man „non-affirmative Cyber-Risiken“. Im Jahr 2019 wollen wir die Branche hierfür besonders sensibilisieren.

Im Zusammenhang mit Digitalisierung und Big Data ist es fast unmöglich, nicht an die Bigtechs zu denken. Oft werde ich gefragt, ob unser Versicherungsschutz demnächst im Silicon Valley konfiguriert werde. Ohne dem spannenden Panel „Fragmentierung der Wertschöpfungskette und neue Geschäftsmodelle“ vorgreifen zu wollen, sehe ich noch keine Bigtech-getriebene Disruption. Bigtechs ziehen es derzeit vor, Versicherern Cloud-Services oder andere Dienstleistungen zu verkaufen. Ob das so bleibt, kann keiner sagen. Der beste Schutz ist in jedem Fall die eigene Qualität.

Einen anderen Schwerpunkt stellt für uns die Nachhaltigkeit dar. Aus unserer eigenen Branchenabfrage wissen wir, dass die Versicherungsunternehmen im Durchschnitt 73 Prozent ihrer Kapitalanlagen bereits als nachhaltig einstufen und 41 Prozent der Unternehmen ihr Engagement ausbauen wollen. Die Unternehmen antworteten uns auf der Grundlage ihrer eigenen Definitionen, die sich naturgemäß voneinander unterschieden. Um diesen Flickenteppich an unterschiedlichen Definitionen zu bereinigen, bedarf es einer gesetzlichen Definition von Nachhaltigkeit, damit auch alle über dasselbe reden. Insofern sind wir sehr gespannt, wie die endgültigen europäischen Vorgaben aussehen werden. Welche Rolle eine definierte Nachhaltigkeit dann in der Kapitalanlage spielen wird, dazu werden wir als Aufsicht in der zuweilen vielstimmigen Diskussion mit Industrie, Gesellschaft und Politik weiterhin mit hörbarer Stimme sprechen. Fest steht jedenfalls: Ob grünes Investment oder traditionelle Anlage - die natürliche Grenze einer Anlageentscheidung ist stets der richtige Risikomaßstab. Wer von Ihnen der Frage nachgehen will, ob sich nachhaltige Investments und langfristige Verbindlichkeiten ergänzen oder ob sie im Widerspruch zueinander stehen, dem sei die gleichnamige Paneldiskussion empfohlen.

Auf das Stichwort Langfristigkeit folgt natürlich die Lebensversicherung. Die größte Sparte der Erstversicherungsbranche wird uns auch 2019 stark beschäftigen. Laut Europäischer Zentralbank werden die Leitzinsen frühestens im Herbst 2019 angehoben. Es ist daher davon auszugehen, dass die Niedrigzinsphase 2019 anhalten wird. Welche Auswirkungen das auf das Geschäftsmodell von Lebensversicherungsunternehmen und Pensionskassen hat, muss ich Ihnen nicht weiter erläutern. Derzeit befinden sich sechs Lebensversicherer und zwei Pensionskassen im externen Run-Off. Veräußerungen stehen unter dem Vorbehalt der Prüfung durch die BaFin. Wir akzeptieren sie nur, wenn ausgeschlossen ist, dass Versicherungsnehmer und Begünstigte durch die Transaktion schlechter gestellt werden.

Zuletzt ist als Variante des internen Run-Offs eine Rückversicherungslösung in den Fokus gerückt. Dabei bleiben die Bestände beim Lebensversicherer, wobei er das Kapitalanlage- und das versicherungstechnische Risiko gegen eine Prämie auf einen Rückversicherer überträgt. Als Aufsicht erwarten wir eine adäquate Streuung der Rückversicherungspartner, die Einhaltung eines signifikanten Selbstbehalts und die Beibehaltung der Selbstverwaltung des Sicherungsvermögens. Wir achten darauf, dass Lebensversicherer mit Hilfe dieser Rückversicherungsverträge keine Überschüsse verschieben – zum Beispiel vom Zins- oder Risikoergebnis in das übrige Ergebnis. Denn dann würde die 90-prozentige Beteiligungsquote an den Kapitalerträgen bzw. am Risikoergebnis durch eine bloß 50-prozentige Beteiligung am übrigen Ergebnis ersetzt.

Das Lebensversicherungsreformgesetz LVRG soll die Leistungsfähigkeit der deutschen Lebensversicherer sichern und die Verbraucher schützen. Beides geht Hand in Hand. Die Änderung der Deckungsrückstellungs-Verordnung mit der Veränderung der Zinszusatzreserve war hierfür ein richtiger und notwendiger Schritt. Weitere Maßnahmen sind angekündigt und werden von der BaFin eng begleitet. Zu den im Evaluierungsbericht des Bundesministeriums der Finanzen an den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages vorgeschlagenen Maßnahmen gehören:

  1. präzisere Regeln für Gewinnabführungsverträge,
  2. präzisere Vorschriften zum gesetzlichen Sicherungsfonds,
  3. präzisere Vorgaben zur Berechnung der Effektivkosten,
  4. Provisionsdeckel.

Wenn es zur Einführung eines gesetzlichen Provisionsdeckels kommt, ist das aus unserer Sicht auch eine Antwort auf die Frage, was regulatorisch getan werden kann, um Fehlanreize im Sinne von § 48 a VAG bei der Vermittlung von Versicherungsverträgen zu vermeiden.

Pensionskassen sind meist noch stärker von der anhaltenden Niedrigzinsphase betroffen als Lebensversicherer. Wir haben mit fast allen Pensionskassen Gespräche geführt und uns auch öffentlich zu Wort gemeldet. Uns geht es dabei immer um mögliche Lösungen im Sinne der Versorgungsberechtigten. Außerdem bedürfen viele Maßnahmen der Genehmigung bzw. Zustimmung der BaFin. Der weit überwiegende Teil der Pensionskassen wird nach derzeitigem Stand in der Niedrigzinsphase bestehen – zum Teil auch dank klarer Unterstützung durch die Trägerunternehmen.

In exakt zwei Monaten – am 13. Januar 2019 – soll das Gesetz zur Umsetzung der EbAV-II-Richtlinie in Kraft treten. Weil Einrichtungen der betrieblichen Altersvorsorge europaweit heterogener sind als Versicherungen, basiert EbAV II anders als Solvency II auf dem Grundsatz der Mindestharmonisierung. Dies wird uns natürlich leiten, wenn wir BaFin-Rundschreiben zur EbAV-II-Richtlinie formulieren. Aber auch bei der Anwendung von EIOPA-Vorgaben auf deutsche Unternehmen werden wir sorgfältig deren Vereinbarkeit mit den besonderen Anforderungen der deutschen bAV prüfen. Auch die bewusste Entscheidung des Gesetzgebers gegen ein marktwertbasiertes Solvenzregime – Stichwort „Common Framework“ – werden wir in unserer Aufsichtspraxis berücksichtigen.

Ich möchte zwei Punkte des Gesetzentwurfs zur Umsetzung der EbAV-II-Richtlinie hervorheben, die gegenüber den bisherigen Regelungen erhebliche Änderungen erfahren: die Regelungen zur Geschäftsorganisation und die Informationspflichten. So werden sich die Informationen zukünftig stärker in den einzelnen Phasen Anwartschaft und Rentenbezug unterscheiden. Pensionskassen und Pensionsfonds werden zukünftig Schlüsselfunktion in den Bereichen Interne Revision, Risikomanagement und Versicherungsmathematik einrichten müssen. Ich gehe davon aus, dass sich die Branche hierzu bereits Gedanken macht.

Bei den durch die EbAV-II-Richtlinie hervorgerufenen Neuerungen kann ich Sie jedoch beruhigen. Denn wie ich bereits ausgeführt habe, werden wir bei der Anwendung der neuen Regelungen den Proportionalitätsgrundsatz berücksichtigen. An der Stelle mache ich einen Punkt: Zur „Zukunft der Altersversorgung“ wird Ihnen Professor Raffelhüschen in wenigen Minuten noch viel mehr erzählen.

Ein weiterer Versicherungszweig, auf den ich genauer eingehen möchte, ist die Rückversicherung. Aus unserer Sicht kämpft die Branche nach wie vor mit der Auskömmlichkeit der Prämien. Als Hoffnungsträger gelten Cyber-Policen. Aber wie auch bei den deutschen Erstversicherern ist hier noch unklar, wie viel Wachstum die Rückversicherer wirklich generieren können. Mir erscheint eine vorsichtige Zeichnungspolitik angebracht angesichts der neuartigen Risiken und der erhöhten Kumulproblematik. Im kommenden Jahr werden wir zur Prämiensituation der Rückversicherer im Nichtleben-Bereich eine Marktanalyse durchführen. Wir erhoffen uns Rückschlüsse auf die Angemessenheit des Geschäftsmodells „klassische Rückversicherung“ und auf die Frage, wie Rückversicherungsprämien sich ggf. auf die Finanzstabilität auswirken.

Der „Brexit“ rückt immer näher. Bereits am 29. März 2019 scheidet das vereinigte Königreich aus der EU aus. Das ist eine Entwicklung, die den Binnenmarkt und somit auch die Versicherungsbranche erheblich verändern wird. Die Bundesregierung hat angekündigt, auch in Zukunft eine enge, vertrauensvolle und ausgewogene Beziehung mit Großbritannien führen zu wollen. Ein „No deal“ wäre die schlechteste Lösung für alle. Dennoch gebietet es die Vorsicht, dass wir uns auch auf einen harten Brexit einstellen. Daher arbeiten wir an Regeln für britische Versicherungsunternehmen, die in Deutschland Geschäft betreiben. Darüber hinaus halten wir die Unternehmen dazu an, Entscheidungen zu treffen, wie zum Beispiel die Gründung eigener Tochtergesellschaften oder Drittstaaten-Niederlassungen in Großbritannien. Als Aufseher werden wir weiterhin prüfen, in welchen Fällen wir welche Möglichkeiten haben, um zu vernünftigen Lösungen zu kommen – ohne bürokratische Monster zu erschaffen.

Meine Damen und Herren. Sie sehen, dass die Branche alles andere als ein „Closed Shop“ ist. Politik, Technik, Ökologie, Gesellschaft: Viele Entwicklungen kommen irgendwann in der Branche an. Deshalb tun Industrie und Aufsicht gut daran, den ständigen Wandel anzunehmen und mitzugestalten. Hierzu wollen wir auch mit unserer heutigen Branchenveranstaltung beitragen.

Ich wünsche allen Zuhörern, Diskussionsteilnehmern, Referenten und Journalisten einen erkenntnisreichen Tag und einen spannenden Austausch untereinander – im laufenden Programm wie auch in der Pause.

Vielen Dank.

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