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Erscheinung:18.10.2018 Rede bei der Internationalen GDV-Konferenz zur Versicherungsregulierung

Rede des Exekutivdirektors Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht am 18. Oktober 2018 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort.

Herr Dr. Weiler, sehr geehrte Damen und Herren,
nach der „hohen Sicht“ des Ministeriums von Herrn Dr. Kukies komme ich nun zu den „Niederungen“ der deutschen Versicherungsaufsicht. Die BaFin ist zwar kein Regulator, aber wir wirken doch an vielen regulatorischen Änderungen mit. So auch an der Weiterentwicklung von Solvency II, dem Gegenstand meiner heutigen Rede.

Bevor ich aber zu diesen regulatorischen Fragen und der Zukunft von Solvency II komme, möchte ich Ihnen gerne schildern, was uns in unserem Tun leitet, was uns wichtig ist. Sie wissen, dass in der jüngeren Vergangenheit verschiedene aufsichtliche Themen Gegenstand kontroverser öffentlicher Debatten waren und noch sind.

Alle Akteure – natürlich auch wir – haben mitgeredet, als es um die Evaluierung des Lebensversicherungsreformgesetzes, die Unabhängigkeit der Treuhänder in der PKV, das Provisionsabgabeverbot oder Varianten des Run-Offs ging. Da auch die Art, wie die BaFin die Unternehmen beaufsichtigt, Gegenstand der Diskussion war, gab es neben der fachlichen Debatte auch so etwas wie eine Meta-Debatte. Einige Marktteilnehmer betrachten unser Vorgehen als Rückfall in eine – aus ihrer Sicht – materielle Versicherungsaufsicht, die sie seit 1994 längst abgeschafft wähnten. Dies möchte ich gerne zum Anlass nehmen, Ihnen unser Verständnis von Aufsicht näher zu erläutern.

Das Hauptziel der Aufsicht ist und bleibt der Schutz der Versicherungsnehmer und Begünstigten. Das hat sich auch durch Solvency II nicht geändert. Es ist aber eine Ebene der internationalen Konvergenz hinzugetreten. Die Versicherungsaufseher haben im Rahmen von EIOPA ein gemeinsames Verständnis für eine hochwertige und wirksame Aufsicht entwickelt.
Unabhängig vom Sitz der einzelnen Versicherungsunternehmen soll europaweit ein gleiches Schutzniveau gewährleistet sein. Hierzu gehört insbesondere die Förderung von Sicherheit und Solidität der Versicherungsunternehmen. Die nationalen Aufsichtsbehörden konzentrieren sich dabei auf die Risiken, denen diese Unternehmen ausgesetzt sind oder in Zukunft ausgesetzt sein könnten.

Wir Aufseher bemühen uns also, frühzeitig einzugreifen, um Störungen oder Verluste seitens der Versicherungsnehmer und Begünstigten so gering wie möglich zu halten. Dies kann auch bedeuten, ein nicht nachhaltiges Geschäftsmodell, eine unangemessene Eigenkapital-Ausstattung, ein schwaches Governance-System oder fragwürdiges Geschäftsgebaren aufzudecken. Dabei ist uns Antizipationsfähigkeit sehr wichtig. Denn falls wir zu spät reagierten, wüchsen die Probleme ungebremst weiter. Das heißt, wir widmen uns nicht nur den Problemen der Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinwirken, nein, wir widmen uns auch schon den Problemen der Zukunft. Dies kann nur durch einen vorausschauenden Ansatz erreicht werden, der kritisch hinterfragt, wie sich neu auftretende Risiken für Versicherungsnehmer am besten rechtzeitig und wirksam ermitteln und bekämpfen lassen. Ich darf zusammenfassen: Als Aufsicht agieren wir risikobasiert, vorausschauend, hinterfragend, umfassend und ergreifen alle erforderlichen aufsichtlichen Maßnahmen. Und das ist manchmal natürlich unbequem.

Jetzt habe ich viel über die BaFin gesprochen. Solvency II stellt aber nicht nur an die Aufsicht höhere Anforderungen. Auch die Unternehmen sind gefragt, sich mit dem neuen prinzipienbasierten Aufsichtssystem auseinanderzusetzen und es mit Leben zu füllen. Dies gilt insbesondere für das Proportionalitätsprinzip. Wir haben in den letzten Jahren mit vielen Unternehmen über diesen Punkt diskutiert. Dies insbesondere deshalb, weil die BaFin in ihren Veröffentlichungen natürlich nur einige mögliche Umsetzungsvarianten aufführen kann.

Bei Unternehmen, die für sich andere Lösungen anstreben, löst dies verständlicherweise Diskussionsbedarf mit uns aus. Aus den vielen Gesprächen haben wir sehr schnell den Schluss gezogen: Der Proportionalitätsgedanke muss im Rahmen des Solvency-II-Reviews 2020 weiterentwickelt werden. Zwischenzeitlich haben wir genügend Erfahrungen sammeln können, um erste Ideen zu entwickeln. Diese müssen wir natürlich noch national, aber auch international diskutieren. In unseren Überlegungen sehen wir uns aber durch erste Äußerungen von EIOPA bestärkt, ähnlich wie bei der EbAV II-Richtlinie auch bei Solvency II das „Ob“ und nicht nur das „Wie“ der Umsetzung dem Grundsatz der Proportionalität zugänglich zu machen. Das ermutigt mich, Ihnen unsere Überlegung bereits heute in groben Zügen zuzurufen:

  • Erstens: Als Regelung zum proportionalen „Ob“ brauchen wir Schwellenwerte, um für Unternehmen und Aufsicht verlässliche Regelvermutungen aufzustellen, wann Unternehmen von der Anwendung einzelner Regelungen befreit sind.
  • Zweitens: Bei kleinen, aber risikoreichen Unternehmen muss die Aufsicht die Möglichkeit haben, das „proportionale Ob“ auszuschalten. Im Ergebnis werden diese Unternehmen dann genauso behandelt wie die Unternehmen, die oberhalb des Schwellenwertes liegen.
  • Drittens: Unsere Ideen gelten auch für die Berichtspflichten. Der bislang vorgesehene Befreiungsmechanismus für die unterjährige Berichterstattung ist auch für uns ein bürokratisches Monster und muss aus Sicht der BaFin dringend vereinfacht werden. Bei Unternehmen unterhalb eines bestimmten Schwellenwertes sollte das aufsichtliche Berichtswesen deutlich reduziert werden. Hier streben wir an, dass diese Unternehmen grundsätzlich von der unterjährigen Berichterstattung befreit sind, es sei denn, ihr Risikoprofil erfordert eine häufigere Berichterstattung. Eins ist aber auch klar: Der bislang von vielen Unternehmen erklärte Verzicht auf die Befreiungsmöglichkeit besteht dann nicht mehr.

EIOPA hat der EU-Kommission ihre technischen Empfehlungen zum sogenannten SCR-Review übermittelt. Dabei ging es darum, die Ermittlung des SCR mit der Standardformel zu überprüfen.
Neben einer allgemeinen Vereinfachung haben wir uns auch intensiv dafür eingesetzt, dass das Zinsänderungsrisikos auf den Prüfstand kommt. Leider hat die EU-Kommission die Überprüfung des Zinsänderungsrisikos auf die Gesamtüberprüfung von Solvency II im Jahr 2020 verschoben. Wir bedauern diese Entscheidung, da die Überarbeitung dieses Moduls fachlich dringend geboten ist. Die derzeitige Methodik unterschätzt das Zinsänderungsrisiko in einer Niedrigzinsphase erheblich und kann keine negativen Zinsen berücksichtigen. Außerdem liegt die Standardformel beim Thema Zinsänderungsrisiko deutlich hinter der Realität und den internen Modellen zurück, wo negative Zinsen bereits adäquat berücksichtigt werden.

Die BaFin wird ihre aktive Rolle bei diesem für den deutschen Versicherungsmarkt sehr wichtigen Thema beibehalten und den von EIOPA sehr sorgfältig erarbeiteten Vorschlag nachhaltig unterstützen. Ansonsten begrüßen wir aber die ersten Entwürfe der EU-Kommission für die Änderungen der delegierten Rechtsakte. Sie greifen weitgehend die Empfehlungen von EIOPA auf. Das freut uns, weil wir an deren Entstehung intensiv und mit viel Einsatz mitgearbeitet haben.

Zwei Punkte, die uns besonders am Herzen lagen, möchte ich hervorheben: Technische Inkonsistenzen, die dem langwierigen Entstehungsprozess von Solvency II geschuldet waren, wurden beseitigt. Außerdem sind weitere Vereinfachungen der Standardformel vorgesehen, etwa bei der Messung von Katastrophenrisiken und dem Stornorisiko in der
Schaden-/Unfallversicherung. „Nach der Überprüfung ist vor der Überprüfung“ und als Aufseher schauen wir natürlich schon von Berufswegen lieber nach vorne als nach hinten.

Die Gesamtüberprüfung von Solvency II nimmt inzwischen klarere Züge an. Neben der Überprüfung der LTG-Maßnahmen werden hier die Themen Berichtswesen und Proportionalität eine Rolle spielen. Unsere Überlegungen und Ziele habe ich Ihnen ja gerade vorgestellt. Daher gehe ich an dieser Stelle auf die Überprüfung der sogenannten LTG-Maßnahmen ein. Diese speziellen Regelungen für das Langfristgeschäft stellen aus gutem Grund einen Kernbereich des anstehenden S-II-Reviews dar.

Zwischen einem Aufsichtssystem, das auf Marktwerten basiert, und dem langfristigen Versicherungsgeschäft besteht naturgemäß ein Spannungsfeld. Das bleibt nicht ohne Folgen: Der Trend, bei neuen Produkten Risiken auf den Kunden zu verlagern, ist ungebrochen. Wir müssen allerdings Wege finden, um den wertvollen Beitrag der Versicherungsunternehmen zur Altersvorsorge zu erhalten. Die Regulierung steht vor der Herausforderung, das Prinzip der Marktkonsistenz zu wahren, zugleich aber dem Charakter des langfristigen Versicherungsgeschäfts angemessen Rechnung zu tragen.

Ich möchte Ihnen heute drei BaFin-Ziele für den LTG-Review erläutern:
Erstens: Den Versicherungsgesellschaften muss es weiterhin ermöglicht werden, die in der Vergangenheit gezeichneten äußerst langfristigen Verträge mit Zinsgarantien in das neue Aufsichtssystem zu überführen – und zwar Schritt für Schritt.
Zweitens: Anreize zu pro-zyklischem Investmentverhalten, die aus einer marktkonsistenten Solvenzbewertung entstehen können, wollen wir begrenzen bzw. vermeiden.
Und drittens soll es den Unternehmen auch in Zukunft möglich sein, langfristige Verträge mit Garantien anzubieten. Die Risiken langfristigen Versicherungsgeschäfts müssen daher angemessen reflektiert werden.

Zum ersten Ziel ist für uns völlig klar: Wir setzen uns stark für den Erhalt der Übergangsmaßnahmen ein. – Für den deutschen Markt sind diese schließlich ein sehr wichtiger Punkt.

Das zentrale Instrument zur Vermeidung von prozyklischem Anlageverhalten der deutschen Versicherer, unserem zweiten Ziel für den LTG-Review, ist die Volatilitätsanpassung. Einige Stimmen sagen, dass die derzeitige Volatilitätsanpassung nicht das leistet, was sie leisten soll. Die Entlastung im Stressfall sei zu niedrig. Und zudem würde die Fähigkeit von Versicherern, Kapitalanlagen bis zur Endfälligkeit zu halten, nicht ausreichend beachtet. Kritisiert wird aber auch die permanente Entlastung für Unternehmen mit kurzlaufendem Geschäft in einem stabilen Marktumfeld. Daher halte ich es für wichtig, die Volatilitätsanpassung auf den Prüfstand zu stellen.

Mir scheint erwägenswert, die Volatilitätsanpassung gedanklich in zwei Komponenten zu betrachten:
o eine Komponente, die als Krisentool bei einem starken Anstieg von Zins-Spreads zu einer befristeten antizyklischen Kapitalentlastung führt.
o eine weitere Komponente, die auf eine angemessene Berücksichtigung langfristigen Geschäfts abzielt.

Einzeln können diese beiden Komponenten dann zielgenauer ausgestaltet werden. Im Unterschied zur jetzigen Volatilitätsanpassung kann bei diesem Vorgehen auch explizit der jeweilige Grad der Illiquidität der unterschiedlichen Versicherungsverpflichtungen berücksichtigt werden, z.B. Laufzeit der Verträge, Kündigungsmöglichkeiten und unterschiedliche Behandlung im Schaden-/Unfall- und Lebensversicherungsgeschäft.

Und damit komme ich zum dritten von der BaFin verfolgten Ziel im Kontext „Langfristgeschäft“. Ich freue mich, dass EIOPA eine Arbeitsgruppe eingerichtet hat, die sich grundsätzlich mit dem Thema einer angemessenen Behandlung illiquider Verpflichtungen beschäftigt. Im Board of Supervisors haben wir der Arbeitsgruppe das Ziel gesetzt, ein gemeinsames europäisches Verständnis herzustellen, was illiquide Verpflichtungen auszeichnet und wie Illiquidität gemessen werden kann. Damit sind weitere Überlegungen zur besseren Berücksichtigung dieser Illiquidität, auch in der Ausgestaltung der VA, überhaupt erst möglich.

Wir gestalten die Arbeiten von EIOPA in diesem Bereich aktiv mit. Hier liegt noch viel Arbeit vor uns, z.B. auch im Hinblick auf eine angemessene Berücksichtigung des Aktien- und Spreadrisikos auf der Aktivseite. Aktuelle Initiativen zur Förderung der langfristigen Altersvorsorge und die mit ihnen zusammen hängenden Diskussionen beziehen wir dabei in die Betrachtung ein, z.B. die aktuellen Überlegungen zur Einführung eines sogenannten Pan-European Pension Product (PEPP).

In aller Munde ist das Thema Nachhaltigkeit. Die BaFin unterstützt die Initiative der EU-Kommission zur Offenlegung von Informationen über nachhaltige Investments und Nachhaltigkeitsrisiken. Es gibt im Bereich Nachhaltigkeit keine einheitlichen Standards. Die BaFin hat im ersten Quartal 2018 eine Branchenabfrage durchgeführt. Sie ergab, dass die Versicherer rund 73 Prozent ihrer Kapitalanlagen als nachhaltig einstufen. Die Mehrheit der Unternehmen benutzt ESG-Kriterien in ihrer Kapitalanlage. Knapp 41 Prozent gaben an, ihr Engagement in nachhaltigen Investments ausbauen zu wollen. Mangels einer gesetzlichen ESG- oder Nachhaltigkeitsdefinition basierte die Umfrage jedoch auf dem eigenen Verständnis der Versicherer. Zur Bereinigung dieses begrifflichen Flickenteppichs auf dem Feld der Nachhaltigkeitsdefinition ist es notwendig, dass der europäische Gesetzgeber schnellstmöglich eine Definition, Messbarkeit und Vergleichbarkeit einführt, damit auch alle über das gleiche reden.

Meine Damen und Herren, mit Solvency II haben wir ein zeitgemäßes Aufsichtssystem eingeführt, das auf breite Akzeptanz trifft und auch in außereuropäischen Ländern als Vorbild für moderne Versicherungsregulierung gilt. Zu Recht. Dennoch gibt es Überprüfungs- und Anpassungsbedarf. Als Aufseher unterstützen wir den angelaufenen Review mit der erforderlichen fachlichen Tiefe und im intensiven Dialog mit der Branche, für den ich Ihnen danke. Die Auswirkungen des Regimes und der angestrebten Änderungen auf die Versicherer sind uns sehr bewusst. Alle Beteiligten müssen verantwortungsvoll damit umgehen – wir Aufseher werden das tun. Natürlich auf der Basis unseres klaren Auftrags, die Belange der Versicherungsnehmer zu wahren.

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