BaFin - Navigation & Service

Erscheinung:22.09.2017 Rede zu aktuellen regulatorischen Themen für die Finanzindustrie

Rede von Felix Hufeld bei der „5. Fachtagung: Neue Rechtsanforderungen für Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Fondsgesellschaften – ein Level Playing Field!?“ der Hochschule der deutschen Bundesbank und der Universität Paderborn am 22. September 2017

Es gilt das gesprochene Wort.

„Quo vadis?“ – „Wohin gehst Du?“ Selbst die Nichtbibelfesten unter Ihnen werden dieser Frage schon oft begegnet sein, meine Damen und Herren. Petrus stellt sie im Johannesevangelium Jesus, der kurz zuvor verkündet hatte, dass einer der Anwesenden ihn verraten werde. Auch den berühmten ersten Satz des Johannesevangeliums werden Sie kennen: „Am Anfang war das Wort.“ Auf unser eher profanes Thema übertragen, lautet die vergleichsweise triviale Frage, die ich heute beantworten soll: Quo vadis, Regulatorik?“ – und wir müssen feststellen: Am Anfang war die Krise.

Und zwar immer wieder aufs Neue, wie die Geschichte zeigt. Auf eine Krise folgt eine Phase der Regulierung, darauf eine Phase der Deregulierung und darauf eine erneute Krise. Das jüngste Beispiel ist vielen von uns in schlechter Erinnerung: die Finanzkrise 2007/2008. Sie brach aus in einer Zeit des Laissez-faire. In den Jahrzehnten vor der Krise hatten weitreichende regulatorische Lockerungsübungen stattgefunden. Der Finanzmarkt reguliere sich selbst, hieß es, und nur wenn man ihn von staatlichen Ketten befreie, könne er wachsen und das Wohl aller mehren. Dass der Markt versagen kann, dass er – frei nach Keynes – länger illiquide sein kann, als Sie und ich solvent, all das hatte man in Zeiten sprudelnder Gewinne ausgeblendet.

Es schien ja auch so einfach zu sein: In der Alles-ist-Möglich-Atmosphäre der 90er und der Nuller Jahre brauchte man nur die Ärmel hochzukrempeln, die Ellenborgen auszufahren – und zuzugreifen. Ähnlich wie Gordon Gekko in dem Film Wall Street. Michael Douglas hat diese Rolle so eindrucksvoll gespielt, dass der gierige Gekko offenbar Role Model für Viele wurde. Obwohl er ins Gefängnis wanderte und der Film als Kritik gedacht war. In einem Finanzsystem, das sich von der Realwirtschaft partiell abgekoppelt hatte, galt der klassische Bankberater, der Kredite an Mittelständler vergab, als graumäusiger Langweiler. In seinem Sittengemälde „The big short“ aus dem Jahr 2010 schildert der US-amerikanische Publizist und Wirtschaftsjournalist Michael M. Lewis beklemmend anschaulich, wie eine unheilvolle Melange aus großen Egos, Nichtwissen, Nicht-Wissen-Wollen, Partikularinteressen und politischen Motiven die Dinge aus dem Ruder laufen ließ.

Mit dem Zusammenbruch des Finanzsystems ging auch das Vertrauen der Kunden verloren. Die gesamte Finanzbranche stand plötzlich am öffentlichen Pranger. Banker und Vertriebsmitarbeiter mussten sich vorwerfen lassen, ihren Kunden Produkte verkauft zu haben, die sie selbst nicht richtig verstanden hatten. Die Gekkos unter ihnen hatten den Ruf ihrer gesamten Zunft verspielt.

Wir mussten also – wieder einmal – erfahren, dass ein schwach reguliertes Finanzsystem nicht auf Dauer stabil sein kann. Stabil ist ein Finanzsystem dann, wenn es auch in Schlechtwetterlagen seinen Grundfunktionen nachkommen kann und finanzielle Ressourcen dorthin lenkt, wo sie den größten volkswirtschaftlichen Nutzen stiften. Nur wenn ein Finanzsystem stabil ist und die Menschen genau darauf auch vertrauen können, nur dann kann es also der Entwicklung der Volkswirtschaft und damit dem Wohlstand einer Gesellschaft dienen. Wobei Sie den Begriff „dienen“ durchaus wörtlich verstehen dürfen. Die Abwesenheit von Finanzstabilität bedeutet Krise, und die bedeutet horrende private und öffentliche Kosten. Finanzstabilität ist daher ein für alle erstrebenswerter Zustand, ein schützenswertes öffentliches Gut.

Der Markt allein kann dieses öffentliche Gut nicht in ausreichendem Maße herstellen und schützen. Das kann nur eine staatliche Instanz, die keine eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgt, und zwar – genau da liegt der Hase im Pfeffer – auf Basis einer verhältnismäßigem, also angemessenen und ausgewogenen, Regulierung.

Nach Ausbruch der Krise wurden überall Rufe laut, man möge die regulatorischen Daumenschrauben anziehen. Das Bedürfnis nach perfekter Sicherheit war groß. Doch die wird und kann es nicht geben. Es gehört in einer Marktwirtschaft zum ordnungspolitischen Auftrag, den Akteuren auf dem Markt die notwenigen Spielräume für Innovation und unternehmerisches Handeln zu lassen – und damit, in letzter Konsequenz, auch für unternehmerisches Scheitern.

Eine verhältnismäßige Regulierung verlangten daher auch die G-20-Staats- und Regierungschefs im November 2008, kurz nach dem Lehman-Kollaps, auf ihrem berühmten Washingtoner Gipfel:

“We pledge to strengthen our regulatory regimes, prudential oversight, and risk management, and ensure that all financial markets, products and participants are regulated or subject to oversight as appropriate to their circumstances“.1)

Eine sehr weit reichende und zugleich umsichtige Forderung. Daraufhin wurden binnen kurzer Zeit auf globaler, europäischer und nationaler Ebene Reformen historischen Ausmaßes angestoßen, entwickelt und zu großen Teilen schon umgesetzt.

Nur einige wenige Beispiele: Eine der ersten regulatorischen Schritte bestand darin, in der Bankenregulierung strengere Offenlegungspflichten für Verbriefungen einzuführen, weil man für mehr Transparenz sorgen wollte. Mehr Transparenz war auch das Ziel zahlreicher Reformen in der Wertpapierregulierung. Im Derivatehandel wurden Strukturen geschaffen, die uns Aufsehern einen besseren Überblick über die Geschäfte und deren Risiken ermöglichen. Auch Rating-Agenturen, die die Risiken komplexer Finanzprodukte zu spät oder gar nicht erkannt hatten, sind in den regulatorischen Fokus gerückt. Die Standfestigkeit von Banken wird durch strengere Eigenkapitalanforderungen und neue Liquiditätsstandards gestärkt, und die Vergütungssysteme der Institute dürfen nun nicht mehr kurzfristige Erfolge belohnen, sondern sollen nachhaltiges Management stärken. Insgesamt ging es darum, eine deutliche Steigerung der Widerstandsfähigkeit und eine bewusstere Steuerung von Risiken zu erzwingen.

Eine weitere Lehre aus der Krise war, dass Regulierung ihren Blick über die einzelne Bank hinaus auf deren Systemrelevanz richten musste. In der Krise waren Staaten de facto erpressbar geworden. Immer wieder sahen sie sich gezwungen, Institute mit Steuergeldern vor dem Untergang zu bewahren, weil ihr Scheitern unabsehbare Folgen für die Allgemeinheit gehabt hätte. Als die US-Regierung an Lehman ein Exempel statuieren wollte, ging das bekanntlich gewaltig schief. Global systemrelevante Banken müssen daher besonders hohe Eigenkapitalanforderungen erfüllen und werden anhand einer Vielzahl weiterer Parameter besonders streng beaufsichtigt.

Und für den Fall, dass eine systemrelevante Bank doch ins Wanken gerät, hat man aufsichtliche Instrumente geschaffen, um sie im Notfall restrukturieren und ohne Schaden für die Allgemeinheit abwickeln zu können. Auf globaler Ebene haben wir noch einen Teil des regulatorischen Wegs vor uns. In der EU ist mittlerweile durch die Sanierungs- und Abwicklungsrichtlinie vorgeschrieben, dass erst die Eigentümer und dann die Gläubiger einer Bank haften – eigentlich eine Selbstverständlichkeit. „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“, formulierte schon Walter Eucken, der Begründer des deutschen Ordoliberalismus. Dieses Grundprinzip marktwirtschaftlicher Ordnung war viel zu lange missachtet worden.

Wir haben erst kürzlich erlebt, wie dieses theoretisch sehr überzeugende europäische Konzept der Gläubigerbeteiligung getestet wurde. Und wir haben gesehen, welche Herausforderungen in der Grauzone zwischen Sanierung und Abwicklung einer Bank einerseits und eventuellen Moral-Hazard-Effekten staatlicher Eingriffe andererseits zu bewältigen sind. Aufseher und Abwickler haben gehandelt, und sie haben ihre erste Feuerprobe bestanden. Aber wir befinden uns hier offensichtlich noch in einem Lernprozess.

So viel erst einmal zu den großen Themenkomplexen „prudenzielle Aufsicht“ und „Sanierung und Abwicklung“, meine Damen und Herren. Auch in der Verhaltensregulierung, einem vergleichsweise jungen, aber nicht minder wichtigen Regulierungszweig, hat die Finanzkrise eine Lawine an Reformen ausgelöst. Die Erfahrungen der Krise und zahlreicher Skandale in vielen Ländern haben nicht nur das Vertrauen der Kunden zerstört. Sie haben das Bild des Verbrauchers in der Politik stark verändert. Die Schutzbedürftigkeit von Verbrauchern wird heute sehr viel höher bewertet als in den Jahren vor der Krise. In der Folge dieser Neubewertung entstanden gigantische Reformwerke wie beispielsweise die MiFID II.

Diese – bei weitem nicht vollständige – Übersicht lässt erahnen, welch regulatorischer Kraftakt seit der Krise vollzogen worden ist. An welchem Punkt sind wir jetzt?

  • Erstens muss es uns gelingen, aus dem ewigen Kreislauf Krise – Regulierung – Deregulierung – Krise auszubrechen. Dazu müssen wir uns bewusst machen, was diesen Kreislauf in Gang hält.
  • Zweitens müssen wir uns kritisch fragen, ob die Regulierung der Post-Krisenzeit tatsächlich angemessen ist, wie es 2008 auch die G20 gefordert haben, und welche regulatorischen Schritte wir als nächstes gehen sollten.

Was also hält den Kreislauf aus Krise – Regulierung – Deregulierung – Krise in Gang? Es ist nicht nur, aber auch der Zeitgeist – was den Urhebern der Regulierung, zu denen auch wir Aufseher zählen, nicht immer bewusst sein mag. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb Rudolph von Jhering dazu folgenden schönen Satz: „Ein Gesetzgeber, der mit dem vollen Bewusstsein seiner Zwecke und Absichten ein Gesetz erläßt, kann nicht anders als glauben, daß es rein sein Werk sei, (…) und doch schiebt ihm, ohne daß er es ahnt, der Geist der Zeit den Stoff unter“.2)

Wer weiß, wo wir heute stünden, wenn der Zeitgeist sich nicht hin und wieder gewandelt und positiven Einfluss auf die Gesetzgebung gehabt hätte. Doch ist auch er nicht vor Irrungen und Wirrungen gefeit. Außerdem scheint er ausgesprochen vergesslich zu sein. Er gibt sich immer wieder, wie Johann Gottfried Herder es formulierte, als „Wiederkommender aus alten Gräbern“.3) Spektakuläre Ereignisse können einen plötzlichen und starken Wandel des Zeitgeistes bewirken.4) Die Finanzkrise 2007/2008 war ein solches Ereignis – wie es auch die Krise Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war, die – unter anderem in Deutschland – weitreichende regulatorische Reformen nach sich gezogen hatte. So einschneidend die Erlebnisse damals waren, die kollektive Erinnerung daran verblasste, und die Akzeptanz von Regulierung erreichte in den 90er Jahren einen Tiefpunkt. Auf diesem Nährboden kam es zu den weitreichenden Deregulierungsmaßnahmen, die die verheerende Krise 2007/2008 möglich gemacht haben – die wiederum den Ruf nach harter Regulierung auslöste.

Und die Moral von der Geschicht? Regulierung muss weniger zeitgeisty sein. Der Zeitgeist ist vergesslich und schwankt zwischen Extremen. Gesetzgeber und Regulierer dagegen müssen aus Fehlern lernen, sie müssen abwägen und immer wieder aufs Neue um Verhältnismäßigkeit ringen.

Und damit sind wir beim zweiten entscheidenden Punkt gelandet: Ist die Post-Krisen-Regulierung angemessen und ausgewogen? Der Weg, den wir nach Ausbruch der Finanzkrise eingeschlagen haben, ist grundsätzlich der richtige. Aber Sie wissen, was es bedeutet, wenn ein Jurist „grundsätzlich“ sagt. In der regulatorischen Community widmen wir uns gerade der anspruchsvollen Frage, ob die zahlreichen Reformen nach Ausbruch der Krise die gewünschte Wirkung entfalten – für sich genommen und als Ganzes. Das Thema Verhältnismäßigkeit muss aus meiner Sicht im Mittelpunkt dieser Betrachtungen stehen. Das Konzept der Verhältnismäßigkeit prägt unser Verständnis von Gerechtigkeit. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH gehört das Proportionalitätsprinzip zu den tragenden Grundsätzen der Unionsordnung und muss bei der Ausgestaltung, Anwendung und Auslegung der EU-Vorschriften stets beachtet werden.

Wenn Sie mich fragen, ob die Regulierung der Nachkrisenzeit verhältnismäßig ist, ob sie also etwa die Risikoprofile der Beaufsichtigten ausreichend berücksichtigt und keine übermäßigen Kosten verursacht, dann lautet meine Antwort: Noch nicht. Oder genauer: Noch nicht durchgehend. Auch die Europäische Kommission ist zu dem Schluss gekommen, dass die EU in Sachen Proportionalität noch einmal nachbessern muss.5) So will sie beispielsweise bei der geplanten Novelle von Eigenmittelrichtlinie und Eigenmittelverordnung kleinere Institute entlasten. Richtig so! Wir haben tatsächlich ein Maß an Regulierung erreicht, das kleinere Banken übergebührlich und – was ihr Risikoprofil angeht– unangemessen belastet. Das muss geändert werden – und zwar weitreichender und differenzierter als von Brüssel bislang vorgeschlagen. Dabei dürfen wir nicht den Fehler begehen, Abstriche bei der Stabilität zu machen. Alle Institute, auch die kleinen, müssen mit ausreichend Eigenkapital und Liquidität ausgestattet sein. Wer daran rüttelt und das Bemühen um Proportionalität mit Deregulierung verwechselt, legt den Grundstein für die nächste Krise.

Wir haben daher gemeinsam mit der Deutschen Bundesbank und in Übereinstimmung mit der Deutschen Kreditwirtschaft einen Vorschlag unterbreitet, wie man die Proportionalität stärker akzentuieren kann. Wie sich dieser Vorschlag durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Unser Ansatz wird keineswegs durchgehend geteilt. Wir haben jedenfalls noch viel Arbeit vor uns.

Interessanterweise stellt sich die Frage der Angemessenheit bei einem weiteren Thema, das stark vom Zeitgeist beeinflusst ist: Fintechs. Wie gehen wir mit jungen Start-ups um? Sie wissen, dass es Länder gibt, die das Sandbox-Modell favorisieren. Wir sind nach wie vor skeptisch. Meine Sicht kennen Sie: gleiches Geschäft, gleiches Risiko, gleiche Regel – und gleiche Aufsicht. Wenn ein Unternehmen reguliertes Terrain betritt, kann es nicht sein, dass Innovationsförderung darin besteht, dass man von Aufsicht absieht, sondern darin, dass man sie verhältnismäßig anwendet.

Wie sehr uns das Thema Verhältnismäßigkeit am Herzen liegt, machen wir auch bei der aktuellen Diskussion über die geplante Vereinfachung des Standardansatzes von Solvency II deutlich. „Diese Richtlinie sollte kleine und mittlere Versicherungsunternehmen nicht übermäßig belasten“, heißt es in den Erwägungsgründen (19) der Rahmenrichtlinie. Und in der Tat prägt der Gedanke der Proportionalität Solvency II über alle drei Säulen des Regelwerks hinweg. Und doch ist der Standardansatz derzeit viel zu komplex – vor allem für kleine und mittlere Versicherer. Es sind derzeit einige Vereinfachungen im Gespräch, die uns allerdings ebenfalls nicht weit genug gehen. Auch über dieses Thema wird beim Solvency-II-Review zu diskutieren sein.

Keine Deregulierung, dafür aber eine Rückbesinnung auf das Primat der Verhältnismäßigkeit – das ist es, was wir auch in der Verhaltensregulierung brauchen, die ebenfalls sehr stark zeitgeistgerieben ist. Fest steht für mich: Verbraucher und Anleger brauchen einen besonderen Schutz, denn sie sind Anbietern und professionellen Investoren unterlegen. Die Product-Governance-Regeln der MiFID II, die den gesamten Lebenszyklus eines Finanzproduktes umfassen, sollen Anleger künftig umfassend schützen und für eine gewisse Waffengleichheit sorgen.

Ist das richtig? Im Prinzip ja. Mit dem Von-der-Wiege-bis-zur Bahre-Ansatz der MiFID gehen wir im Anlegerschutz einen bedeutenden Schritt weiter. Und, wie gesagt: Verhaltensregulierung ist wichtig – ebenso wichtig wie die prudenzielle Regulierung – was offenbar in einigen Vorstandsetagen noch nicht angekommen ist. Und das in einer Branche, der es – bei allen Fortschritten – noch immer nicht gelungen ist, sich das Vertrauen der Anleger vollständig zurückzuerobern. Und dennoch: Der Ansatz der MiFID II ist sehr komplex. Entscheidend ist jetzt, dass wir als Aufsicht bei der Anwendung der neuen Regeln den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherzigen. Verhältnismäßigkeit hat immer zwei Seiten: die der Regulierung und die der Anwendung.

Wir führen viele Gespräche – mit der Finanzindustrie und mit der europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA. Auf diese Weise gestalten wir die organisatorische Umsetzung der neuen Product-Governance-Regeln im Sinne der Verhältnismäßigkeit mit. Das ist uns wichtig, denn wir müssen zusehen, dass die flächendeckende Versorgung mit Finanzprodukten nicht gefährdet wird. Wenn es sich nicht mehr lohnt oder mit unkalkulierbaren Rechtsrisiken verbunden ist, Finanzprodukte anzubieten, dann will sie irgendwann niemand mehr anbieten. Was natürlich kein vernünftiges regulatorisches Ziel sein kann. Dass die BaFin in der Lage ist, verhältnismäßige Entscheidungen zu treffen, hat sie auch bei der Anwendung der Instrumente der Produktintervention gezeigt. Sie nutzt diese Instrumente lediglich als ultima ratio.

Meine Damen und Herren, eine Facette des Themas „Verhältnismäßigkeit“ ist das Prinzip der Risikosensitivität. Bei den Verhandlungen zur Vollendung von Basel III steht diese große regulatorischen Errungenschaft in der Diskussion. Wir wollen und müssen die Risikosensitivität zwar auf sinnvolle Weise beschränken, sie als regulatorisches Prinzip aber erhalten. Strittig ist, wie Sie wissen, noch immer das Design und die Kalibrierung eines Output Floors für Banken, die interne Modelle verwenden.

Dieser Floor soll verhindern, dass die risikogewichteten Aktiva und damit die Kapitalanforderung der Institute ungerechtfertigter Weise voneinander abweichen. Wenn wir diesen Floor zu hoch ansetzen, erdrosseln wir allerdings jede Risikosensitivität, und das wäre ausgesprochen schädlich.

Das Prinzip der Risikosensitivität steht derzeit aus drei Richtungen unter Beschuss:

  1. Die Banken hätten gerne maximale Freiheit und maximale Individualität bei der Anwendung interner Modelle, wobei ich den Instituten selbstverständlich guten Willen unterstelle. Ein solches Maß an Freiheit und Individualität kann aber nicht Ziel von Basel III und Regulierung insgesamt sein.
  2. Die Fraktion der regulatorischen Skeptiker sieht Risikosensitivität weitestgehend als Metapher für Missbrauch – jedenfalls soweit sie auf bankinternen Berechnungen basiert.
  3. In den Augen der wohlmeinenden akademischen Vereinfacher schließlich hat die risikosensitive Regulierung einen so hohen Grad an Komplexität erreicht, dass sie als Modell nicht sicher genug ist und deshalb scheitern muss.

Den Skeptikern und Vereinfachern ist gemein, dass sie die Risikosensitivität faktisch eliminieren wollen. Sie wollen pauschale Limits wie die Leverage Ratio oder Output Floors zum zentralen Aufsichtsinstrument für die Steuerung der Kapitalvorgaben machen. Willkommen zurück in der Welt von Basel I Nichtrisikosensitive Limits sind sinnvoll – als äußerste Leitplanke und Ergänzung zu risikosensitiven Anforderungen und einem funktionierenden Risikomanagement. Aber als alleiniges oder primäres Instrument der Kapitalsteuerung taugen pauschale Limits dieser Art nicht, denn sie verringern Risiken nicht, sie vermehren sie – erst recht, wenn man die Limits in extreme Höhen schraubt. Auch wenn der Zeitgeist derzeit Simplifizierung verlangt, komplexe Risiken lassen sich nicht auf eine Zahl reduzieren. Das werden wir auch beherzigen müssen, wenn wir über den Umgang mit internen Modellen in der Versicherungsregulierung diskutieren.

Meine Damen und Herren, dass Regulierung weniger zeitgeisty sein muss, ist das eine. Dass sie zeitgemäß sein muss, das andere. Dieser Teil der Übung ist der schwierigste, denn es muss uns gelingen, eventuelle künftige Verwerfungen gedanklich vorwegzunehmen und regulatorisch einzupreisen. In der Finanzbranche arbeiten sehr intelligente und gut ausgebildete Menschen. Diese Menschen sind mit einer ungeheuren Kreativität gesegnet, was die Ausnutzung bestehender Spielräume und das Umschiffen regulatorischer Klippen angeht. Aber wir Regulierer und Aufseher sind auch nicht dumm, und wir gehen keiner Auseinandersetzung aus dem Weg. Diese gute Tradition wollen wir fortführen. In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Fußnoten:

  1. 1) Leaders of the Group of Twenty, Declaration of the Summit on Financial Markets and the World Economy, Washington, 15. November 2008, Seite 2.
  2. 2) Von Jhering, Rudolph: Der Geist des römischen Rechts, 3. rev. Ausgabe 1873, Seite 45.
  3. 3) Johann Gottfried Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität - Kapitel 4, abgerufen unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/briefe-zu-beforderung-der-humanitat-6443/4.
  4. 4) Vgl. hierzu auch von Jhering, Rudolph, Seite 30.
  5. 5) Vgl. hierzu z.B. http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-3731_de.htm

Fanden Sie den Beitrag hilfreich?

Wir freuen uns über Ihr Feedback

Es hilft uns, die Webseite kontinuierlich zu verbessern und aktuell zu halten. Bei Fragen, für deren Beantwortung wir Sie kontaktieren sollen, nutzen Sie bitte unser Kontaktformular. Hinweise auf tatsächliche oder mögliche Verstöße gegen aufsichtsrechtliche Vorschriften richten Sie bitte an unsere Hinweisgeberstelle.

Wir freuen uns über Ihr Feedback