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Erscheinung:11.11.2016 Banken zwischen Recht und Unrecht

Rede von Felix Hufeld auf der 62. Kreditpolitischen Tagung der Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen am 11. November 2016 in Frankfurt am Main

- Es gilt das gesprochene Wort -

Meine Damen und Herren,

wer wissen will, wie es um das Ansehen der Banken bestellt ist, kann sich Berufsrankings anschauen. Eine Auflistung, die der Beamtenbund im September zusammen mit dem Forsa-Institut veröffentlicht hat, bringt wenig Überraschendes zum Vorschein. Besonders beliebt sind Feuerwehrleute und Sanitäter, danach kommen die Krankenschwestern. In der unteren Hälfte der Skala finden sich die üblichen Verdächtigen: unter anderem Journalisten und Politiker. Das Ansehen der Bankkaufleute, so eine weitere Erkenntnis, ist stark gesunken. Nun schneiden caritative Berufe in solchen Umfragen grundsätzlich besser ab als kaufmännische. Allerdings gab in einer aktuellen Befragung der Unternehmensberatung Ernst & Young mehr als jeder dritte Bankkunde an, dass sein Vertrauen in die Geldhäuser in den vergangenen zwölf Monaten zurückgegangen sei.

Schon seit Beginn der Finanzkrise 2007/2008 plagt die Branche ein Imageproblem. Arroganz und zu hohe Risikoneigung sind noch die freundlicheren Attribute, die der Volksmund für die Bankenwelt findet. Und es handelt sich nicht bloß um die Entladung eines allgemeinen Unbehagens. Durch spektakuläre Einzelfälle geraten immer wieder Gesetzesverstöße und schwerwiegendes Fehlverhalten in den Fokus der Öffentlichkeit, die daraufhin ihr Urteil fällt. Es ist nun einmal so: Ein schwarzes Schaf wiegt oft mehr als 100 weiße. Der Titel der heutigen Tagung, „Banken zwischen Recht und Unrecht“, gibt daher eine durchaus verbreitete Grundstimmung in der Gesellschaft wieder. Er könnte auch das Thema einer Fernsehtalkshow sein.
Eine solche Show wäre aber der falsche Ort, um sich angemessen mit der Frage nach Recht und Unrecht in der Bankenwelt auseinanderzusetzen. Trotz offensichtlicher Fehlentwicklungen eignet sich das Thema nicht für populistische Pauschalkritik. Nie war die Wirklichkeit in der Finanzwelt nur schwarz oder weiß. Stets gab es Zwischentöne.

Sicher, für die Bankiers früherer Zeiten galt das Ideal der ehrbaren Kaufleute, wie wir es aus der Buddenbrook-Welt kennen. Um mit dem amerikanischen Philosophen Michael J. Sandel zu sprechen, wollen ehrbare Kaufleute die Mechanismen des Marktes wirksam für ihr Unternehmen einsetzen. Dieses Prinzip findet aber dort seine Grenzen, wo auch soziale Beziehungen Marktregeln unterworfen werden sollen. Ehrbare Kaufleute gehen nur Geschäfte ein, die sie verstehen und die sie in ihren Auswirkungen für ihr Unternehmen und die Gesellschaft durchdrungen haben und verantworten können. So positiv dieses Leitbild ist, nie wurden ihm alle Akteure in der Wirtschaft – und damit auch in der Bankenwelt - vollständig gerecht. Sonst hätte es keine Krisen größeren Ausmaßes geben dürfen. Aber die gab es durchaus! Denken Sie nur an die wilde Spekulationswelle vor dem Schwarzen Freitag 1929 und die erste deutsche Bankenkrise nach dem Zusammenbruch der Darmstädter und Nationalbank im Jahr 1931. Auch die Danatbank hatte sich auf unverantwortliche Kreditrisiken eingelassen.

Auf der anderen Seite waren in den 90er und Nuller-Jahren nicht alle Banker Abbilder von Gordon Gekko aus dem Film „Wallstreet“. Aber ich bestreite nicht, dass in der Finanzwelt viele Gekkos unterwegs waren. Obwohl Regisseur Oliver Stone mit der Figur ein abschreckendes Beispiel schaffen wollte, war der Zocker über Jahrzehnte role model vieler Banker und Hedgefonds-Manager. Seine „Gier ist gut“-Rede wurde zur Hymne derer, die den Hals nicht voll genug kriegen konnten.

Letzten Endes konnten die Gekkos dieser Welt aber nur deshalb so über die Stränge schlagen, weil ihre Umgebung es zuließ, ja sie zum Teil sogar für ihre Ruchlosigkeit und ihre zeitweisen Erfolge bewunderte. Der klassische Bankberater, der Kredite an Mittelständler vergab oder Privatkunden Sparbücher verkaufte, galt als Langweiler. Vielleicht haben Sie das Buch „The big short“ von Michael Lewis gelesen oder den Film gesehen. Darin wird anschaulich geschildert, wie eine ebenso atemberaubende wie unheilvolle Melange aus großem Ego, Nichtwissen, Nicht-Wissen-Wollen, Partikularinteressen und politischen Motiven die Dinge aus dem Ruder laufen ließ. Eine treffende Milieustudie der Vorkrisenjahre, wie ich finde.

Ich stimme der Analyse von Blackrock-Vizechef Philipp Hildebrand zu, dass damals beim Tanz um das goldene Kalb viele mitgemacht haben: Banker, Wissenschaftler, Journalisten, Politiker und andere. Und nirgendwo tauchte ein Mose auf, der dieses goldene Kalb rechtzeitig demontiert und den Tanz gestoppt hätte. Deshalb reicht es aus meiner Sicht nicht aus, nur die Banken an den Pranger zu stellen.

Wir müssen umfassender analysieren und uns auch andere Akteure sowie den damals vorherrschenden Zeitgeist anschauen. Nicht ohne Grund hat Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede beim 20. Deutschen Bankentag im April 2014 für eine genaue Einordnung der Finanzkrise plädiert.

Meine Damen und Herren,

als ich gerade sagte, die Umgebung habe es den Gekkos leicht gemacht, meinte ich damit auch und vor allem das regulatorische Umfeld. Mehr als jeder andere Wirtschaftszweig lebt die Kreditwirtschaft davon, dass die Allgemeinheit darauf vertrauen kann, dass sie stabil und leistungsfähig ist. Der Regulierung kommt dabei eine entscheidende Rolle zu. Finanzstabilität ist unbestritten ein öffentliches Gut. Es besteht auf den Märkten kein inhärenter Anreiz, sie zu produzieren. Deshalb braucht die Finanzbranche eine konsistente Regulierung; überwacht durch eine Aufsicht, die – anders als die Marktteilnehmer – keine eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgt, die im Interesse der Allgemeinheit handelt und für stabile und funktionsfähige Finanzmärkte sorgt.

Zu Beginn der Bankenkrise stand die Frage im Raum, wie die Finanzwirtschaft – und mit ihr die Weltwirtschaft - derart an den Rand des Abgrunds rutschen konnte, obwohl die Finanzregulierer doch genau das verhindern sollten.

Lassen Sie mich etwas ausholen: In den Jahrzehnten vor der Krise haben Regulierer und Gesetzgeber dereguliert – leider an den falschen Stellen. Europa-, ja weltweit wurden aus den Reihen von Finanzindustrie und Politik entsprechende Forderungen laut – freundlich unterstützt von wissenschaftlichen Vordenkern, die das allgemeine Wohl den Selbstheilungskräften des Marktes überantworten wollten. Die Verfechter der Deregulierung hatten bedeutende Ökonomen auf ihrer Seite, etwa Eugene Fama, einen der geistigen Väter der Hypothese von der Effizienz der Märkte.

Diejenigen unter Ihnen, die der möglicherweise berechtigten Meinung sind, dass sich der Markt zumindest langfristig wieder einrenkt, seien an einen Satz von John Maynard Keynes erinnert: „Markets can remain irrational longer than you can remain solvent.“ Regulierer und Aufseher können nicht darauf warten, dass sich der Markt irgendwann wieder einpendelt. Sie müssen zum Wohle der Allgemeinheit agieren und ein Höchstmaß an Stabilität anstreben. Dessen waren sich auch die G-20-Staats- und -Regierungschefs bewusst.

Und so kam es zu dem dringend notwendigen Paradigmenwechsel, als sie im November 2008, unter dem frischen Eindruck des Lehman-Zusammenbruchs, das Post-Krisen-Regulierungsziel steckten: Alle Finanzmärkte, alle Produkte und alle Marktteilnehmer sollten reguliert werden, forderten sie, aber – und das ist das Entscheidende – ihren Umständen angemessen. Die neue Regulierung sollte effizient sein, Innovation aber nicht unterdrücken.

Bei der notwendigen Neuausrichtung der Regulierung stand der Wunsch, die Banken widerstandsfähiger zu machen, weit oben auf der Liste. Das globale Regelwerk Basel III und sein europäisches Pendant, das CRD-IV-Paket aus Richtlinie und Verordnung, setzen an zwei wesentlichen Schwachstellen an, die sich in der Krise offenbart haben: Erstens müssen Banken genügend Eigenkapital haben, um Verluste im laufenden Geschäftsbetrieb abfedern zu können. Das geht nur mit echtem, also hartem Kernkapital. Ergänzungskapital fängt erst in der Liquidation Verluste auf. Es war daher absolut richtig, strengere Anforderungen an die Qualität der Eigenkapitalausstattung zu stellen und außerdem mit dem Kapitalerhaltungspuffer die Möglichkeit zu schaffen, Verluste zu absorbieren. Außerdem müssen Banken Liquiditätsvorsorge betreiben, was sie freiwillig offensichtlich nicht in ausreichendem Maße getan haben.

Meine Damen und Herren,

in der jüngeren Vergangenheit wurden allerdings auch zunehmend Fragen gestellt, die weit über die traditionelle Regulierung hinausgehen. Dabei bewegen wir uns im Spannungsfeld von Legalität und Legitimität. Es geht um bestimmte Verhaltensweisen von Bankmitarbeitern und die Erwartungshaltung an den Staat, diese zu sanktionieren. Solange sich die Banken an geltendes Recht halten, können wir aufsichtlich nichts beanstanden. Auch in der Praxis ist die Unterscheidung zwischen illegalem und illegitimem Verhalten nicht immer leicht.

Denken Sie an Briefkastenfirmen. Natürlich werden solche Firmen auch zum Zweck der Steuerhinterziehung genutzt, aber nicht jeder, der so eine Unternehmung betreibt, ist ein Steuerhinterzieher. In einem Rechtsstaat kann aber aus vielen guten Gründen nur derjenige belangt werden, der gegen ein Gesetz verstoßen hat – und dem dieser Verstoß auch nachgewiesen werden kann. Anderseits ist es in einem Rechtsstaat aus ebenso vielen guten Gründen weder gewollt noch praktisch möglich, jede einzelne Geschäftshandlung eines Unternehmens zu beaufsichtigen.

Schwierig wird es auch, wenn zivil- oder steuerrechtlich strittig ist, ob und zu welchem Zeitpunkt ein bestimmtes Handeln illegal ist – Stichwort „Cum ex“ bzw. „Cum cum“. Wenn eine Bank genau gewusst hat, was sie tut und dass vor Ort rechtswidrige Geschäfte getätigt werden, kann das durchaus aufsichtsrechtliche Konsequenzen haben.
Bewusste Beihilfe zur Steuerhinterziehung entspricht nicht dem, was wir für einen ordnungsgemäßen Geschäftsbetrieb halten. Allein die Beteiligung an der Abwicklung solcher Geschäfte lässt aber noch kein abschließendes Urteil zu. Vor einer möglichen Sanktion müssen viele Fragen gestellt und viele Sachverhalte geklärt werden.

Richtig ist: Nicht alles, was rechtlich zulässig ist, muss zwangsläufig legitim sein. Darüber kann aber nur in einer politischen oder gesellschaftlichen Debatte geurteilt werden, die dann in klar formulierte Normbefehle durch den Gesetzgeber übersetzt werden muss. Aktuelle Fälle, die in Medien und Gesellschaft einen enormen Widerhall gefunden haben, dürften solche Debatten mit Sicherheit befördern.
Alle Akteure an den Finanzmärkten täten gut daran, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen: Faires und korrektes Verhalten schafft – auch jenseits der harten Fragen der Legalität - Vertrauen. Fehlverhalten zerstört Vertrauen. Deshalb zahlt es sich für die Banken ökonomisch aus, wenn sie sich nicht nur rechtskonform, sondern im wahrsten Sinne des Wortes anständig verhalten. Genauso, wie es das Leitbild des ehrbaren Kaufmanns vorsieht. Eine verstärkte Rückkehr zu diesem Ideal ist gewiss kein Fehler. So tun die Institute gut daran, sich im Rahmen von Compliance, die gewissermaßen das Moralsystem und die Risikokultur einer Organisation beschreibt, klare Spielregeln zu geben – und sich auch daran zu halten. Gerade die Führungskräfte sind gefordert, mit gutem Beispiel voranzugehen und Integrität im Alltag vorzuleben. Sie muss zum festen Bestandteil betrieblicher Abläufe werden.

Leider bezweifle ich, dass sich Vertrauen allein mit Selbstverpflichtungen oder Appellen herstellen lässt. Auch zu früheren Zeiten hat das nicht überall funktioniert. Selbst der Eid, den die Mitarbeiter niederländischer Finanzinstitute seit April vergangenen Jahres leisten müssen, wäre ohne die dahinterstehenden Sanktionen in letzter Konsequenz weiße Salbe. Schwerer als der Schwur wiegt aus meiner Sicht, dass Bankmitarbeitern in den Niederlanden bei Meldung eines Fehlverhaltens bis zu 25 000 Euro Bußgeld oder sogar bis zu drei Jahren Berufsverbot droht. Deshalb ist eine verschärfte Verhaltensaufsicht ein wichtiger Punkt. Hier ist viel passiert. Allein seit Ausbruch der Finanzkrise haben die Institute weltweit Strafen und Bußgelder von rund 300 Milliarden US-Dollar gezahlt – meist wegen Verstößen gegen Verhaltensstandards.
Die von den Behörden der Vereinigten Staaten praktizierte Ahndung solcher Verstöße möchte ich mir ausdrücklich nicht zu eigen machen. Aber: Ganz ohne gelegentlich auch sehr nachdrückliche und persönliche Sanktionierung wirken gesetzgeberische, geschweige denn moralische, Appelle nicht wirklich. Diese Erfahrung kann ich Ihnen nach dreieinhalb Jahren aufsichtlicher Tätigkeit ausdrücklich bestätigen.

Stark getrieben durch erhöhte Anforderungen im Verbraucherschutz, gehören Wohlverhaltensregeln inzwischen ebenso auf die Agenda wie Transparenz- und Dokumentationspflichten, außerdem Vorgaben zur Produktentwicklung und zum Vertrieb.

Wenn wir Verbraucher und Anleger in einer immer komplexeren und datendurchdrungenen Welt aber wirklich schützen wollen, dann kommen wir nicht um weitere Vorschriften umhin. Nur so können wir faire Bedingungen auf den Finanzmärkten sichern. Die Institute, die wir beaufsichtigen, müssen daher in der Verhaltensaufsicht ebenso mit uns rechnen wie in der prudenziellen Aufsicht. Verhaltensregulierung ist weder überflüssig, noch irgendwelcher soft stuff, sondern ein Thema, an dem wir konsequent dranbleiben müssen. Natürlich muss auch dies Gegenstand vernünftiger regulatorischer Abwägung sein. Verhaltensnormen, die das Informationsgefälle zwischen Anbietern und Verbrauchern auszugleichen versuchen, dürfen aber nicht dazu führen, dass Innovationen oder die rechtssichere Versorgung von Kunden mit Finanzprodukten grundsätzlich problematisch werden.

Meine Damen und Herren,

wenn wir über Banken zwischen Recht und Unrecht sprechen, muss auch die demokratische Legitimation der Entstehung finanzregulatorischer Vorgaben beleuchtet werden. Seit Jahren folgt die Bankenregulierung den Regelungen, die der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht als globaler Standardsetzer entwickelt. Verabschiedet werden diese Vorgaben von einem Gremium aus den Notenbankgouverneuren und Chefs der Aufsichtsbehörden der Baseler Mitgliedsländer.
Wir Aufseher, Teil der Exekutive, wirken in Basel somit an vorderster Front an Regulierung mit. Bei Lichte betrachtet sind die Baseler Regelungen Empfehlungen an die Länder, die im Ausschuss vertreten sind. Sie richten sich an international aktive Banken. Die EU hat diese von Fachexperten maßgeblich erarbeiteten Papiere aber bislang in vollem Umfang für alle Institute umgesetzt. Der Grund liegt auf der Hand: Ein einheitlicher Binnenmarkt braucht einheitliche Regeln. Umso wichtiger ist es aber, dass dem Prinzip der Proportionalität ausreichend Geltung verschafft wird.

Inzwischen haben sich auch die drei Europäischen Finanzaufsichtsbehörden, die ESAs, als wichtige Stützen der Finanzarchitektur erwiesen. Auch an ihnen wird hin und wieder Kritik laut. Oder besser gesagt, an der Macht, die sie ausüben - etwa bei der Ausarbeitung sogenannter Level-II-Maßnahmen, also verbindlicher technischer Regulierungsstandards.

Dazu ist Folgendes anzumerken: Die ESAs erarbeiten Entwürfe dieser Standards. Sie nutzen dabei die Expertise der nationalen Aufsichtsbehörden. Diese Entwürfe werden anschließend der Kommission zugeleitet, die die Vorlagen in eigener Verantwortung prüft, ggf. ändert und in einem festgelegten Verfahren erlässt.

Die auf Level-I-Ebene ergehenden EU-Basisakte, das heißt Verordnungen und Richtlinien, werden zudem vom Europäischen Parlament und vom Rat verabschiedet, einschließlich der in ihnen enthaltenen Mandate bzw. Kompetenzen für die ESAs zum Erlass von Level-II-Maßnahmen. Ähnliche Kompetenzen kennt auch das deutsche Recht, etwa wenn der Gesetzgeber eine Behörde ermächtigt, Rechtsverordnungen zu erlassen. In beiden Fällen bestimmt jeweils der Gesetzgeber ex-ante Inhalt und Ausmaß einer „delegierten“ Regulierung. Die ESAs und die EU-Kommission arbeiten somit ausdrückliche Arbeitsaufträge des Gesetzgebers ab. Ein grundsätzliches Demokratiedefizit oder Verselbständigungstendenzen zu Lasten des EU-Gesetzgebers kann ich hier nicht erkennen. Eher sehe ich hier die Gefahr, dass der europäische Gesetzgeber auf Level I mangels politischer Kompromissfähigkeit zum Teil sehr weite Formelkompromisse vereinbart, die dann den nachgeordneten Verwaltungsstufen sehr viele Spielräume eröffnen. Wesentliche Regelungen müssen aber auf Level I getroffen werden. Dies haben Rat und Parlament, wenn sie die Kommission zum Erlass von Level-I-Maßnahmen ermächtigen, sicherzustellen.

Eigenständig(er) sind die ESAs lediglich auf Level-III-Ebene, wo sie Leitlinien und Empfehlungen veröffentlichen können. Es handelt sich hierbei um Best-Practice-Empfehlungen. Keines dieser Instrumente ist rechtlich verbindlich, keines greift in die Befugnisse des Gesetzgebers ein. Dass die ESAs in Einzelfällen über das Ziel hinausschießen, bestreite ich nicht. Es bleibt aber den nationalen Behörden unbenommen, die ESAs auf fehlerhafte Regulierung hinzuweisen und eine ESA-Empfehlung nicht oder nur in abgewandelter Form zu implementieren - bis diesbezüglich eine gemeinsame europäische Lösung gefunden wird.

Meine Damen und Herren,

nicht nur bei der Entstehung von Finanzregulierung, sondern auch bei der praktischen Arbeit der Aufsicht stellen sich vielfältige Rechtsfragen bei der Ermessensausübung. Noch immer wenden wir bei der Erfüllung unserer Aufgaben eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe an. Beispielsweise sieht die MiFID-II-Richtlinie zum Schutz der Kunden Regelungen zu Produktüberwachungspflichten – die sogenannte Product Governance - vor. Banken und andere Wertpapierdienstleister, die Finanzprodukte auflegen und sie anschließend vertreiben, müssen künftig sicherstellen, dass diese Produkte mit den Anforderungen des zuvor festgelegten Zielmarkts vereinbar sind, auf dem sie vertrieben werden sollen. Die MiFID-II-Vorgaben enthalten also eine Reihe von Tatbestandsmerkmalen, die ausfüllungsbedürftig sind. So muss die „beabsichtigte Vertriebsstrategie“ für ein Finanzprodukt seinem jeweiligen Zielmarkt „entsprechen“.
Ausgefüllt werden die Merkmale unter anderem durch die Delegierte Richtlinie der Kommission zur MiFID II, die national im Zweiten Finanzmarktnovellierungsgesetz gemeinsam mit der MiFID II umgesetzt wird. Dies ist nur eines von sehr vielen Beispielen, bei dem die Vorgaben der Finanzregulierung durch praktische Anwendung in eine belastbare einheitliche Verwaltungspraxis überführt werden müssen.

Mit der geplanten Scharfschaltung der Finanzmarktverordnung MiFIR im Januar 2018 können auch ESMA und EBA Finanzprodukte verbieten, wenn diese Anlegerinteressen oder die Finanzstabilität insgesamt gefährden. Für die BaFin haben wir diese Möglichkeit mit Inkrafttreten des Kleinanlegerschutzgesetzes im vergangenen Juli bereits vorgezogen – und prüfen dies derzeit am Beispiel der Bonitätsanleihen. Wann jedoch Anlegerinteressen in einem solchen Maß auf dem Spiel stehen, dass es ein Produktverbot rechtfertigt, geht aus dem Wertpapierhandelsgesetz bzw. der MiFIR nicht explizit hervor. Konkretisiert wird dies in der Delegierten Verordnung zur MiFIR. Dabei sind insbesondere der Komplexitätsgrad des jeweiligen Finanzprodukts und das Maß möglicher Auswirkungen auf die Kunden zu berücksichtigen.

Diese Regelungen mögen komplex sein. Was auch daran liegt, dass die regulatorischen Grundlagen der Finanzmärkte komplex sind und hier vielschichtiges Zusammenspiel verschiedener Akteure in Gesetzgebung und Regulierung stattfindet.

Richtig bleibt indes: Auch – oder vielleicht gerade – in einem komplizierten Umfeld braucht eine schlagkräftige Aufsicht ein Mindestmaß an Flexibilität, um auf unvorhergesehene, neue Entwicklungen reagieren zu können. Diese Flexibilität sollten wir uns auch von künftigen Reformprozessen nicht nehmen lassen.

Meine Damen und Herren,

auch wenn ich kein ausgebildeter Theologe bin, erlauben Sie mir zum Abschluss eine kurze Bußpredigt: Allein die Tatsache, dass in Veranstaltungen über „Banken zwischen Recht und Unrecht“ diskutiert wird, zeigt, dass sich das gesellschaftliche Klima verändert hat. Gekkoismus ist out. Eine Figur wie Gordon Gekko finden nur noch die wenigsten so cool, wie sie in den 80er oder 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wahrgenommen wurde. Deregulierung, die ich für eine wesentliche Ursache der Finanzkrise halte, ist aus der Mode gekommen. Stabilitätsorientierung, Risikokontrolle und ökonomische Nachhaltigkeit der Geschäftsmodelle sind keine altmodischen Weltanschauungen mehr. Auch die Aufsicht der leichten Hand gehört der Vergangenheit an. Auf allen drei Ebenen – Regulierung, Aufsicht und Unternehmen – finden wir mittlerweile eine deutliche andere Einstellung und Risikowahrnehmung als vor der Krise.

Allerdings ändern sich gesellschaftliche Trends und wissenschaftliche Moden. Kaum zehn Jahre nach Beginn der Finanzkrise höre ich wieder die Schalmeienklänge der Deregulierung. Und ich bilde mir ein, dass diese Töne lauter werden. Das ist nicht ungefährlich, allerdings überrascht es mich nicht. Der Politologe und Philosoph Marver Bernstein war bereits in den 1950er Jahren zu einer nachvollziehbaren Einschätzung gelangt: Ist der Schaden da, wird nach mehr Regulierung und Kontrolle gerufen. Schnell setzt sich die Maschinerie in Gange und es werden entsprechende Gesetze und Verordnungen verabschiedet. Mit der Zeit lässt das Interesse an einer strengeren Regulierung wieder nach, und die Freunde des Laissez-faire gewinnen Oberwasser. Es droht ein weiterer regulatorischer Schweinezyklus aus Krise – Regulierung – Deregulierung – und erneuter Krise, der in niemandes Interesse sein kann.

Was die Branche, aber auch Politik und Aufsicht brauchen, ist Berechenbarkeit und Kontinuität. Und nicht regulatorische Volatilität, die die Maßstäblichkeit von Recht und Unrecht selbst starken Schwankungen aussetzt. Zu dieser Nachhaltigkeit, auch im Bereich der Finanzregulierung, wollen meine Kollegen und ich einen Beitrag leisten.

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