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Erscheinung:14.07.2016 Zuckerbrot und Peitsche – was muss Regulierung leisten?

Rede des Präsidenten der BaFin, am 14. Juli 2016 in Hohenheim

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr Professor Burghof,
sehr geehrte Damen und Herren,

„Zuckerbrot und Peitsche – was muss Regulierung leisten?“, so lautet der Titel, den Sie mir für meinen heutigen Vortrag nahegelegt haben. Seit Bismarcks Zeiten beschreibt der Ausdruck „Zuckerbrot und Peitsche“ einen bestimmten Stil von Regierenden im Umgang mit den Bürgern. Der Ursprung dieses Wortes ist aber viel älter und stammt aus der Zucker-produktion in Lateinamerika und der Karibik. Das Zuckerbrot, das sind die karamellisierten Klumpen, die sich bei der Zuckerherstellung bilden. Diese erhielten Sklaven in den Zuckerrohrplantagen zur Belohnung. Zur Bestrafung wiederum kam die Peitsche zum Einsatz. Die Praxis, wie Bankenregulierung im Europa des 21. Jahrhunderts funktioniert, stellt sich allerdings doch etwas anders dar. Die Zeiten der Sklaverei haben wir glücklicherweise hinter uns gelassen. Und Zuckerklumpen, so vermute ich, reichen gewiss nicht aus, um für Bankmanager einen Anreiz zum Wohlverhalten zu schaffen.

Zudem entspricht das Bild von Zuckerbrot und Peitsche nicht der konti-nentaleuropäischen Rechts- und Aufsichtstradition. Elemente dieses Ge-dankens findet man vielleicht im amerikanischen Schadensersatzrecht. Dort gibt es neben dem Ausgleichsgedanken, der dem in Deutschland üblichen Schadensersatz entspricht, auch „Punitive damages". Etwas, das im deutschen Recht nicht existiert und das üblicherweise als „Strafscha-densersatz" übersetzt wird. Die Betonung liegt dabei klar auf der ersten Silbe.
Neben Bestrafung ist aber auch Abschreckung ein Aspekt der „Punitive damages“. Wie manche spektakuläre Schadenersatzprozesse gezeigt ha-ben, schwingt die eine oder andere Jury dabei schon die sinnbildliche Peitsche, was unter anderem die teilweise exorbitant hohen Bußgelder erklärt, die Banken in den USA zu zahlen haben.

Welche Rechtsordnung auch gelten mag, Fakt ist: Finanzstabilität ist ein öffentliches Gut. Es besteht auf den Märkten kein inhärenter Anreiz, sie zu produzieren. Deshalb ist die Finanzbranche eine regulierte Branche, begleitet und überwacht durch eine Finanzaufsicht, die – anders als die Marktteilnehmer – im Interesse der Allgemeinheit handelt. Und wenn wir uns dem Kern guter Regulierung nähern wollen, dann stehen für mich nicht „Zuckerbrot und Peitsche“ im Vordergrund, sondern andere Fra-gen. Allem voran: Wem nutzt Regulierung? Aber auch: Wie wirkt sie, ins-besondere wie wirkt sie langfristig?

Die Frage cui bono? ist schnell beantwortet: Gute Regulierung nutzt allen. Ohne gute Regulierung und ohne staatliche Aufsicht, die sie im öffentli-chen Interesse durchsetzt, gibt es keine Stabilität auf den Finanzmärkten und – vor allem – kein Vertrauen in die Stabilität dieser Märkte. Dies gilt in extremer Form, wenn bereits im Vorfeld objektiver Gefährdungen schon das bloße „Für möglich halten“ einer Gefährdung zu starken Ver-trauensverlusten führen kann. In rasanter Geschwindigkeit können dann Unternehmen und ganze Märkte unter Druck geraten. Genau das kenn-zeichnet die Situation im Bankensektor.

Die Abwesenheit von Finanzstabilität bedeutet Krise, und eine Krise verursacht horrende öffentliche und private Kosten, wie wir in jüngster Vergangenheit auch deutlich sehen konnten. Finanzstabilität ist daher ein für alle erstrebenswerter Zustand, ein höchst schützenswertes öffentli-ches Gut. Und weil eine Marktwirtschaft stabile Finanzmärkte braucht, ist deren Regulierung gleichzeitig eine wichtige Voraussetzung für Wachs-tum und gesellschaftlichen Wohlstand im Allgemeinen.

Bereits die zweite Frage nach der Wirkung von Regulierung lässt sich we-niger eindeutig beantworten. Je nach Regulierungsansatz können die Wirkmechanismen unterschiedlich ausfallen. Deshalb sollten die Ansätze entsprechend der gewünschten Wirkung kalibriert werden.

Meine Damen und Herren,

als Frankfurter bin ich geradezu verpflichtet, Weisheit und gelegentlich auch Trost bei Goethe zu suchen. So gefällt mir eine Darstellung der Gartenarbeit. Goethe, der viel Zeit in der Natur verbrachte, schrieb: „Die Pflanze gleicht den eigensinnigen Menschen, von denen man alles erhalten kann, wenn man sie nach ihrer Art behandelt. Ein ruhiger Blick, eine stille Konsequenz in jeder Jahreszeit, in jeder Stunde das ganz Gehörige zu tun, wird vielleicht von niemand mehr als vom Gärtner verlangt.“ Von Regulierern und Aufsehern aber auch, möch-te ich da ergänzen!

Inwieweit sich der in Geldfragen nicht unbeleckte Goethe auch mit Fi-nanzregulierung befasst hat, harrt noch einer genaueren Untersuchung. Aber einige Anforderungen bringt der Dichter auf den Punkt: Augenmaß, konsequentes Handeln - und den Mut, falls erforderlich, in schwierigen Situationen harte Entscheidungen zu treffen.

Und genauso umsichtig wie Gärtner ihren Rasen oder ihre Pflanzen auf-ziehen, müssen Gesetzgeber und Regulierer ein ordnungspolitisches Fundament für die Kapitalmärkte legen. Außerdem brauchen auch Märk-te gelegentlich Pflege, damit sie in die richtige Richtung wachsen und ge-deihen können. Sinnbildlich muss gegossen werden, wenn es zu trocken ist; muss gejätet werden, wenn zu viel Unkraut wächst. Und hat man das Unkraut ausgerissen, darf man sich nicht lange im Schatten ausruhen. Denn, wie wusste schon Mark Twain: Unkraut ist alles, was nach dem Jäten wieder wächst. Auch an den Finanzmärkten ist der Leidensdruck einer Krise schnell verflogen, wenn die Kurse erst einmal wieder nach oben gegangen sind. Im Nu neigt manch einer zu erneutem Leichtsinn und manches schwarze Schaf traut sich wieder, die Grenzen der Legalität auszutesten.

Einen Makel hat das Gärtnerbild doch. Es ist etwas paternalistisch und lässt sich nicht in allen Facetten mit den Mechanismen einer Marktwirt-schaft vereinbaren.

Eine angemessene Regulierung kennt aber ihre Grenzen. Sie bevormun-det Bürger und Unternehmen nicht über das notwendige Maß hinaus, weil sie sonst jegliche private und unternehmerische Initiative im Keim ersticken könnte. Eine starre, überreglementierte Ordnung dagegen be-deutet Stillstand. Sie gaukelt etwas vor, was es nicht gibt: perfekten Schutz und perfekte Sicherheit. Das Credo der BaFin lautet daher seit jeher „so viel Regulierung und Aufsicht wie nötig und so viel Freiheit wie möglich“.

Eine weitsichtige Regulierung nach dem Vorbild von Goethes Gärtner hätte uns in der Finanzkrise 2007/2008 jedoch einiges an Ärger erspart. Direkt nach Ausbruch der Krise stand sogar der Vorwurf im Raum, dass Aufsicht und Regulierung über Jahre hinweg nicht richtig funktioniert hätten. Zwar hatte diese kritische Zuspitzung sicherlich viele, komplexe Ursachen. Mängel im internationalen Regulierungsgefüge spielten aber auch eine Rolle. Denn, in den Jahrzehnten zuvor hatte ein – im Rück-blick – übersteigertes Vertrauen in die Effizienz der Märkte dominiert. Die Schlagworte waren Deregulierung und Aufsicht leichter Hand (light touch supervision).

Besonders populär wurde vor etwa 50 Jahren die Hypothese von der Ef-fizienz der Märkte. Wie weit diese Theorie trägt, können viele von Ihnen als Vertreter wirtschaftswissenschaftlicher Fakultäten sicher gut einschät-zen. Als Praktiker versichere ich Ihnen: Das klappt nicht immer! Lassen Sie es nur einmal daneben gehen...den Schaden können Sie sich ausmalen!
Die älteren unter Ihnen kennen sicher noch den berühmten Sponti-Spruch „One nuclear bomb can ruin your whole day“. Dasselbe lässt sich auch von einer veritablen Finanzkrise sagen.

Für diejenigen unter Ihnen, die berechtigterweise der Meinung sind, dass sich der Markt zumindest langfristig wieder einrenken wird, sei an einen Satz von John Maynard Keynes erinnert: „Markets can remain irrational lon-ger than you can remain solvent.“ Auch ein Regulierer kann nicht darauf war-ten, dass sich der Markt irgendwann wieder einpendelt. Er muss im Sinne der Allgemeinheit agieren und nach dauerhafter Stabilität trachten. Des-sen waren sich auch die G-20-Staats- und -Regierungschefs bewusst, als sie im November 2008, unter dem frischen Eindruck des Lehman-Zusammenbruchs, das Post-Krisen-Regulierungsziel steckten: Alle Fi-nanzmärkte, alle Produkte und alle Marktteilnehmer sollten reguliert werden, forderten sie, aber – und das ist das Entscheidende – ihren Um-ständen angemessen.

Das war richtig und wegweisend – und gleichzeitig der Ausgangspunkt für die Arbeiten am Regelwerk von Basel III. Priorität hatte nun, Finan-zinstitute und Realwirtschaft vor einer Neuauflage der Krise zu schützen. Konkret heißt dies: Die Institute müssen mehr und besseres Eigenkapital vorhalten. Hinzu kamen strengere Vorgaben an Liquidität und Verschul-dungsgrad, schärfere Anforderungen an verschiedene Bereiche des Risi-komanagements sowie Vorgaben zur besseren Abwicklungsfähigkeit. Außerdem wurden deutlich mehr Daten abgefordert als zuvor.

Inzwischen werden die Lasten verschärfter Regulatorik von einigen Un-ternehmen als hoch, gelegentlich als zu hoch, empfunden. Das gilt für Basel III genauso wie für die unmittelbar geltende Eigenkapitalverord-nung (Capital Requirements Regulation - CRR) mit ihren gut 500 Artikeln und die Eigenkapitalrichtlinie (Capital Requirements Directive - CRD IV), die Basel III in Europa umsetzt. Richtig ist, dass Regulierung immer eine sensible Kalibrierung zwischen „zu viel“ und „zu wenig“ erfordert. Im Vorkrisenmodus war das allgemeine Regulationsniveau aber schlicht unzureichend und bedurfte dringend der Korrekturen. Und wenn wir über finanzielle Lasten sprechen, dann gehört zur Wahrheit dazu, dass eine neue Krise Volkswirtschaften und Unternehmen erst recht massiv belasten würde.

Meine Damen und Herren,

zwischen dem Krisenjahr 2007 und 2014 ist die Staatsverschuldung der G20-Staaten von etwa 70 % auf round about 110 % angewachsen. Gleichzeitig nahm die Arbeitslosigkeit in diesen Nationen um mehr als zwei Prozentpunkte zu. Politische Prioritäten verschieben sich. Dennoch müssen wir mit Nachdruck daran arbeiten, einen immer wiederkehren-den regulatorischen Schweinezyklus aus Krise – Regulierung – Deregulie-rung und erneuter Krise zu vermeiden. Dies kann nur gelingen, wenn un-sere regulatorische Linie konsequent fortführen und sie, wo immer mög-lich, international vertiefen. Niemals kann es jedoch Ziel von Regulie-rung sein, Marktschwankungen - und auch Scheitern - schlechterdings zu unterbinden. Das ist weder erstrebenswert noch möglich.
Die Lage stellt sich allerdings anders dar, wenn es um die Stabilität der Finanzmärkte als Ganzes geht - sei es national oder international, was in der heutigen Welt kaum noch zu trennen ist.

Leider ist der Weg zu guter Regulierung oft mit Stolpersteinen gepflastert, und manchmal sind sogar die (vermeintlichen) Lösungen das Problem. Regulierung kann nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn der ge-samte Regulierungsprozess gut verläuft. Am Anfang jeder regulatorischen Initiative müssen daher Analysen und Überlegungen stehen, die es er-möglichen, Ursache-Wirkungszusammenhänge zu erkennen. Der zwar anspruchsvolle, aber dennoch leichtere Teil der Vorarbeiten besteht da-rin, sich mit offensichtlichen Regelungslücken zu befassen. Problemati-scher ist es dagegen, einen Blick in die Zukunft zu werfen und bislang unbekannte Marktverwerfungen gedanklich vorwegzunehmen. Schon Churchill stellte fest, dass Prognosen immer schwierig sind, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Und auch wir Regulierer und Aufseher können uns leicht zu Tode analysieren. Deshalb sollten wir uns von An-fang an mit der Finanzbranche, mit der Wissenschaft und den anderen Betroffenen austauschen.

Meine Damen und Herren,

ist ein Regulierungsvorhaben einmal skizziert, muss geprüft werden, ob es tatsächlich die gewünschte Wirkung entfaltet. Auswirkungsstudien hel-fen uns dabei, das herauszufinden. Wenn ich von gewünschter Wirkung spreche, meine ich damit auch, dass Regulierung keine unerwünschten Nebenwirkungen haben darf – etwa Ausweichbewegungen in weniger streng regulierte Gefilde. Solche Ausweichschritte – im Jargon sprechen wir von Aufsichtsarbitrage – gilt es abzufangen. Als aber nach Ausbruch der globalen Finanzkrise in aller Hektik Lücken in der Bankenregulierung geschlossen werden mussten, war für solche Überlegungen zunächst kei-ne Zeit. Allen Beteiligten war jedoch klar, dass man mit einer stringente-ren Regulierung Ausweichbewegungen in Richtung Schattenbankensektor provozieren würde. Das Ziel muss daher sein, auch den Schattenbanken-sektor und seine Verbindungen zum regulierten Sektor stärker in den Blick zu nehmen. Regulierer dürfen also keine Scheuklappen tragen und sich auf einzelne Sektoren beschränken. Sie müssen das ganze Finanzsys-tem im Blick haben und mögliche Interdependenzen, Wechselwirkungen sowie Zweit- und Drittrundeneffekte erkennen.

Eine der größten Herausforderungen bei der Schaffung guter Regulierung besteht darin, über die Grenzen einzelner Finanzsektoren hinweg ein stabiles und in sich schlüssiges Gesamtwerk zu schaffen. Dabei gilt der Grundsatz „gleiches Geschäft, gleiches Risiko, gleiche Regel“.

Dies trifft umso mehr für das internationale Parkett zu: Was gleich ist, sollte überall in der Welt gleich reguliert werden. Und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen machen Risiken bekanntlich nicht an nationalen Grenzen halt. Zum anderen darf Regulierung nicht als Instrument zur Standortförderung missverstanden werden. Es darf nicht sein, dass sich Staaten ein „race-to-the-bottom“ um die laxesten Standards liefern. Im Um-kehrschluss muss aber auch gelten: Was nicht gleich ist, darf auch nicht gleich reguliert und beaufsichtigt werden.

Dieses Thema beschäftigt uns derzeit im Einheitlichen Aufsichtsmecha-nismus für die Banken der Eurozone, dem SSM, der im November 2014 an den Start gegangen ist. Eine Erkenntnis aus der bisherigen Arbeit ist, dass die Aufsichtspraktiken in den Ländern des Euroraums weiter ver-einheitlicht werden müssen – sofern nicht nationale rechtliche Gegeben-heiten und erhaltenswerte nationale Besonderheiten betroffen sind. Die Europäische Zentralbank entwickelt ihre Standards gemeinsam mit uns nationalen Aufsehern. In die Verhandlungen gehen wir als überzeugte Europäer. Aber wir geben unsere nationale Expertise nicht beim Pförtner ab. Dabei ist es mitunter keine wirklich leichte Übung, unseren nichtdeutschen Kollegen die Charakteristika des hiesigen Bankenmarkts zu vermitteln. So haben wir mit den Sparkassen und Kreditgenossen-schaften eine Besonderheit, die es gerade wegen ihrer überragenden Rol-le bei der Finanzierung kleiner und mittelständischer Unternehmen sowie im Privatkundengeschäft unbedingt zu erhalten gilt. Wir werden nicht müde, in solchen Fällen Überzeugungsarbeit zu leisten.

Dennoch sollten wir uns keine falschen Hoffnungen machen. Eine wirk-lich europäische Aufsichtskultur kann erst entstehen, wenn es uns Auf-sehern gelingt, neben unserer nationalen eine europäische Identität zu entwickeln. Erst dann wäre echtes grenzüberschreitendes Denken und Arbeiten möglich. Dass so etwas – trotz SSM – nicht über Nacht entste-hen kann, sollte uns in den Zeiten des BREXIT allen bewusst sein. Auf-geben sollten wir dieses Ziel aber nicht. Ich setze hier auf einen langen Atem – und mit den Worten Victor Hugos darauf, dass „Nichts mächti-ger ist als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“.

Im Übrigen hat uns der BREXIT vor Augen geführt, wie richtig die Nachkrisenregulierung war. Ohne strengere Vorgaben und eine engere internationale Kooperation von Regulierern und Aufsehern wären die Folgen des BREXIT für die Finanzmärkte vermutlich noch heftiger aus-gefallen. Die Märkte wären viel anfälliger für Spekulationen und Volatili-täten geblieben.

Was gute Regulierung außerdem ausmacht: Sie ist zum einen umfassend und versetzt Aufseher in die Lage, das öffentliche Gut Finanzstabilität zu schützen, indem sie die Risiken auf den Finanzmärkten eindämmt. Zu-gleich aber ist sie angemessen. Auf diese Weise minimiert gute Regulie-rung Wohlfahrtsverluste, ohne unnötige Regulierungskosten zu verursa-chen.

Angemessenheit bedeutet auch, dass wir nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Es muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt blei-ben, der in Brüssel unter dem Begriff „Proportionalität“ firmiert. Gute Regulierung unterscheidet daher zwischen großen und stark vernetzten Unternehmen und kleineren. Die Kapitalausstattung und Risikomanage-mentsysteme international agierender Großbanken etwa müssen sehr viel anspruchsvolleren Anforderungen genügen als die regional tätiger Institu-te. Entscheidend ist immer das individuelle Risikoprofil.

Gute Regulierung ist daher auch risikosensitiv. Risikosensitive Eigenmit-telanforderungen zählen für mich zu den größten regulatorischen Errun-genschaften der vergangenen Jahre. In der Bankenregulierung haben wir sie seit Basel II, in der Versicherungsaufsicht haben wir mit der Scharf-schaltung von Solvency II zu Jahresbeginn nachgezogen. Der risikosensi-tive Ansatz des Baseler Regelwerkes ist allerdings ebenso wenig frei von Schwächen wie der von Solvency II. Wir müssen zum Beispiel aufpassen, dass die Unternehmen Gestaltungsspielräume nicht übermäßig ausnut-zen. Ich sehe bei Solvency II auch die Gefahr einer zu starken Prozyklik, auf die wir, was das langfristige Versicherungsgeschäft angeht, regulato-risch reagieren müssen. Das hat – nebenbei bemerkt – auch erhebliche Konsequenzen für Versicherer in ihrer Rolle als Langfristinvestoren in realwirtschaftliche Projekte. Soll heißen: Risikosensitivität muss auch und vor allem unter Berücksichtigung stark unterschiedlicher Fristigkeiten richtig bewertet werden.

Eine völlige Abkehr von der Risikosensitivität, wie sie manche derzeit für die Bankenregulierung fordern, wäre aber ein gewaltiger regulatorischer Rückschritt. Allein auf pauschale Anforderungen zu setzen, ist ein Irrweg, den wir nicht noch einmal beschreiten sollten. Statt den Weg zurück in die – nicht gute – Regulierung à la Basel I einzuschlagen, sollten wir den risikosensitiven Ansatz des Baseler Regelwerks verbessern. Wir sollten die Schwächen der Internen Modelle beseitigen – und nicht die Möglich-keit, überhaupt Modelle zu nutzen.

Es ist beispielsweise an der Zeit, sich von der alten Baseler Annahme zu verabschieden, dass alle Risiken modellierbar seien. Bei manchen Risiken haben wir dazu nämlich nicht genügend Daten. Ich könnte mir für einige Risikoarten hybride Ansätze vorstellen, also eine Mischung aus Modellie-rung und intelligenten Standardverfahren. Wir müssen dann natürlich genau festlegen, wann etwas modelliert werden darf oder muss und wann nur ein Standardansatz zur Verfügung steht.

Um einige dieser zentralen Fragestellungen wird in Basel gerade heftig gerungen. Erklärtes Ziel ist es, die Modifikationen des Baseler Reform-werkes bis Jahresende unter Dach und Fach zu bekommen. Letztlich geht es dabei um die nötige Balance zwischen der bankindividuellen, richtigen Einstufung bestehender Risiken einerseits und dem notwendi-gen Maß an Standardisierung und Vereinheitlichung andererseits - und darum, welche praktischen Konsequenzen diese Festlegungen tatsächlich für die Bilanzen der betroffenen Banken haben werden.
Wir arbeiten hart daran und geben uns größte Mühe, bis zum Jahresende dauerhaft tragfähige und abgewogene Lösungen zu erzielen.

Neue Perspektiven verschafft uns der Einheitliche Bankenabwicklungs-mechanismus (SRM), der zu Jahresbeginn seine operative Tätigkeit im vollen Umfang aufgenommen hat. Er soll möglich machen, was bislang kaum vorstellbar war: Geraten systemrelevante Banken ins Wanken, werden die Abwicklungsbehörden sie künftig restrukturieren bezie-hungsweise – so die Erwartung – auch geordnet liquidieren können. Die Allgemeinheit und - besonders wichtig - die Steuerzahler sollen dabei keinen Schaden nehmen. Damit wird in einem Ernstfall nicht mehr ein Bail-out, sondern der Bail-in das Mittel der Wahl sein. Das Signal, das durch den SRM ausgesendet wird, ist stark: Der Staat ist künftig nicht mehr als barmherziger Samariter zur Stelle, wenn ein Geschäftsmodell vom Markt bestraft wird. Die Investoren tragen die Verluste. Dass man sich mit diesen neuen Regeln allerdings erst vertraut machen muss, hat das volatile Marktumfeld in den ersten Monaten dieses Jahres gezeigt.

Meine Damen und Herren,

in der öffentlichen Debatte sorgt momentan auch ein Thema für Ge-sprächsstoff, das die Grenzen der klassischen Finanzaufsicht austestet. Gemeint sind Verhaltensweisen, bei denen es nicht allein um die Frage der Legalität geht, sondern ebenso sehr um die Legitimität. Mit solchen Fragen aufsichtlich angemessen umzugehen, stellt uns vor große Heraus-forderungen – und zwar sowohl praktischer als auch grundsätzlicher Art. In praktischer Hinsicht, weil es weder gewollt noch möglich ist, jede ein-zelne Geschäftshandlung zu beaufsichtigen. Und in grundsätzlicher Hin-sicht besteht das Problem, dass ein Verhalten, das aus vielerlei Gründen problematisch und diskutabel sein kann, nicht zwangsläufig rechtswidrig sein muss. Briefkastenfirmen sind ein bekanntes Beispiel hierfür. Sie können zum Zweck der Steuerhinterziehung genutzt werden, aber nicht jeder, der eine solche Firma hält, ist ein Steuerhinterzieher.

Breiteres Medien-Echo fanden zuletzt auch so genannte „Short-Attacken“. Diskutiert wurden Fälle, in denen bekannte Marktteilnehmer oder bis dato unbekannte „Analysehäuser“ gezielt negative Berichte über börsennotierte Firmen lancierten. Vermeintlich, um den Börsenkurs die-ser Gesellschaften zum Absturz zu bringen - und dann selbst von fallen-den Kursen zu profitieren. So ein Verhalten kann unter das Verbot der Marktmanipulation fallen, wenn die veröffentlichten kursrelevanten In-formationen falsch oder irreführend sind. Objektiv unrichtige Angaben lassen sich normalerweise verhältnismäßig leicht feststellen. Dagegen be-reitet es oft Probleme, einen Vorsatz wirklich nachzuweisen. Allein die Zuordnung einer Zweifel erweckenden Veröffentlichung zu einer be-stimmten natürlichen Person kann manchmal zu einer echten „mission im-possible“ werden.

Schwierig wird es auch, wenn zivil- oder steuerrechtlich strittig ist, ob und zu welchem Zeitpunkt ein bestimmtes Handeln illegal ist – Stichwort „Cum ex“ bzw. „Cum cum“.
Die Frage, wann exekutives Aufsichtshandeln möglich, geboten oder so-gar rechtswidrig ist, lässt sich nicht leicht beantworten, wenn das rechtli-che Umfeld nicht eindeutig ist. Fest steht: Es kann nicht Aufgabe einer Aufsichtsbehörde sein, offene Rechtsfragen im Vorgriff auf den Gesetz-geber oder die Rechtsprechung im Wege des einfachen Verwaltungshan-delns zu klären.

Richtig ist aber auch: Nicht alles, was legal ist, muss auch legitim sein. Darüber kann allerdings nur in einem politischen oder gesellschaftlichen Diskurs geurteilt werden. Aktuelle Fälle, die in Medien und Gesellschaft einen enormen Widerhall gefunden haben, dürften solche Debatten mit Sicherheit weiter angeregt haben. Alle Akteure an den Finanzmärkten tä-ten gut daran, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen: Faires und kor-rektes Verhalten schafft – auch jenseits der harten Fragen der Legalität - Vertrauen. Fehlverhalten zerstört Vertrauen, das geht ganz schnell.

Meine Damen und Herren,

nicht nur Krisen und Skandale stellen Regulierer und Aufseher häufig vor neue, bisher nicht bedachte Fragen. Es gibt auch erfreulichere Anlässe. Etwa, wenn neue Marktteilnehmer mit neuen Geschäftsmodellen auftau-chen. Aktuell sind FinTechs ein Beispiel dafür. Wenn junge Unterneh-men mit frischen Ideen Resonanz finden, dann spricht einiges dafür, dass der Markt funktioniert.

Eine andere Frage ist, wie wir regulatorisch und als Aufsicht mit Fin-Techs umgehen. Wie bereits erwähnt ist der Finanzmarkt aus guten Gründen reguliert und es existiert ein Netz an Vorgaben, das auch für coole Newcomer nicht außer Kraft gesetzt werden kann. Je nach Ge-schäftsmodell gelten diese Vorschriften auch für FinTechs, die wir nach dem Grundsatz „gleiches Geschäft, gleiches Risiko, gleiche Regel“ an-wenden. Natürlich auch hier immer unter Beachtung der Proportionalität – egal, welche Technologie eingesetzt wird, und egal, wie hip ein Busi-ness ist. Wir werden deshalb weder einen Schutzzaun um etablierte Platzhirsche ziehen, noch Start-ups in irgendeiner Form bemuttern. Was man von uns aber erwarten kann, ist eine adressatengerechte Kommuni-kation. Adressatengerecht heißt im Kern: verständlich, schnell und – so-weit es geht – elektronisch.

Einen wichtigen Impuls hat aktuell unsere Konferenz BaFin-Tech 2016 gesetzt. Etwa 200 Gründer und Unternehmensvertreter hatten wir vor gut zwei Wochen nach Frankfurt eingeladen, um uns auszutauschen und einen Einblick in die Sichtweisen des jeweils anderen zu bekommen. Mein Eindruck war, dass diese Veranstaltung Gründern und Firmenver-tretern viele neue Erkenntnisse gebracht hat. Ebenso interessant waren die Statements aus den FinTechs für uns. So konnten wir mehr über de-ren Geschäftsmodelle und Arbeitsweisen erfahren. Außerdem haben wir nun einen besseren Eindruck davon, mit welchen Fragen und Aufgaben wir uns künftig verstärkt beschäftigen müssen. Unsere Zielsetzung ist, den Dialog mit der Branche fortzusetzen und unseren Aufsichtsblick weiter für ihre Belange zu schärfen.

Gerade die FinTechs machen deutlich, wie wenig Regulierung im Zeital-ter der Digitalisierung nur mit Zuckerbrot und Peitsche ausrichten kann. Zu viel Zuckerbrot könnte falsche Anreize setzen. Und was wäre, wenn ein Unternehmen plötzlich anfangen würde, krumme Geschäfte zu ma-chen, nachdem wir es zuvor allzu sehr verwöhnt hätten? Die Schlagzeilen können Sie sich vorstellen. Außerdem sollten wir aus der Dotcom-Blase gelernt haben, dass es keinen Coolness-Bonus geben darf. Auch die Peit-sche wäre fehl am Platz. Würde die Aufsicht auf ein Start-up eindre-schen, könnte neben den Missständen, die manchmal auf fehlender Er-fahrung oder Fahrlässigkeit beruhen, auch der gesunde Kern eines Un-ternehmens beschädigt werden. Regulierung ist Anpassung, aber wir müssen den Start-ups auch Gelegenheit geben, sich zu entfalten und zu wachsen.

Ich setze auch hier auf den Proportionalitätsgedanken – und Proportio-nalität heißt nun einmal, jedes Unternehmen nach seiner Art – das be-deutet in unserem Fall: nach seinem spezifischen Risikogehalt - zu be-handeln. Zwar streng und konsequent, aber auch mit Augenmaß und oh-ne zu schwanken. Und damit sind wir zurück bei Goethes Gärtnerbild - das unsere Arbeitspraxis als Regulierer und Aufseher doch zutreffender beschreibt als Zuckerbrot und Peitsche. Aber, wenn ich es mir richtig überlege… Vielleicht sollten wir die Peitsche doch nicht ganz so weit bei-seitelegen. Auch Spitzbuben wird es immer geben. Und mit denen muss ebenfalls adressatengerecht kommuniziert werden. Was immer das hei-ßen mag, überlasse ich an dieser Stelle Ihrer Phantasie.

Sie sehen, meine Damen und Herren, in der heutigen modernen und komplexen Welt sind auch die Anforderungen an Finanzregulierung und Aufsicht vielfältiger und komplexer geworden. Wir bewegen uns in einer Spannbreite, in der wir etablierten Unternehmen ebenso gerecht werden müssen wie dynamischen Newcomern. Ebenso rückt neben die traditio-nelle Aufsicht, die primär die Solvenz von Finanzunternehmen in den Blick nimmt, zunehmend die Verhaltensaufsicht in den Fokus – und da-mit die Art und Weise, wie Finanzgeschäfte betrieben werden. Und schließlich sind Regulierung und Aufsicht längst keine rein nationalen Angelegenheiten mehr. Die europäische und globale Standardsetzung nimmt immer mehr Raum und Gewicht ein.

Allen diesen Aufgaben stellen sich meine Kollegen und ich mit großem Engagement und der größtmöglichen Sorgfalt, damit Anleger wie Kun-den zu Recht Vertrauen in stabile Finanzmärkte und Unternehmen ha-ben können.

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