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Erscheinung:22.11.2016 „Systemisches Risiko im Versicherungsgeschäft“

Rede des Präsidenten der BaFin, am 19. November 2018 in Münster

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren,

hätten Sie mich vor 20 Jahren eingeladen, über „systemische Risiken im Versicherungsgeschäft“ zu sprechen, dann hätten viele den Kopf geschüttelt: Versicherer – so die damals beinahe einhellige Meinung – konnten nicht systemrelevant sein. Dementsprechend konnte von ihnen kein systemisches Risiko ausgehen. Jedes Unternehmen sei ersetzbar, kein Ausfall sei mit ernstzunehmenden Folgen für die Gesamtwirtschaft verbunden, so der Tenor der Branchenkenner. Was für eine Fehleinschätzung, wie wir leider feststellen mussten. Wie in vielen anderen Fällen auch, war es die Finanzkrise 2007/2008, die lange Zeit akzeptierte Gewissheiten als Trugschluss offenlegte.

Die Krise hat die Finanzmärkte und sogar die gesamte Wirtschaft getroffen, wie wenige Ereignisse zuvor. Finanzaufsichts- und Regulierungsbehörden, Zentralbanken und politische Entscheidungsträger waren mit einer noch nie dagewesenen Verkettung von Ereignissen konfrontiert. Überall mussten Steuergelder in Milliardenhöhe für die Rettung einzelner Finanzinstitute investiert oder riskiert werden, um die Märkte zu stabilisieren und das Vertrauen der Realwirtschaft sowie von Millionen Bürgern in die Finanzinstitute, aber auch der Institute untereinander wiederherzustellen.

Nach einer Phase unmittelbaren Krisenmanagements wurde deutlich, dass die Krise viele Ursachen hatte – darunter die Existenz von „Systemrisiken“, für die im Wesentlichen eine Kombination von zwei Faktoren bestimmend war. Erstens können Ereignisse mit scheinbar begrenztem Umfang tatsächlich die Stabilität des Finanzsystems weltweit gefährden, da es Ansteckungskanäle und Verflechtungsgrade gibt, die früher unterschätzt wurden. Insbesondere die Praxis, finanzielle Risiken zu verpacken, zu strukturieren und Anlegern in aller Welt zu verkaufen, hat ursprünglich begrenzte Risiken unter einer enorm hohen Zahl von Anlegern weltweit verbreitet. Genau diese Instrumente waren dann auch Ur-sache für die weltweite Verbreitung der Subprime-Krise. Die Anleger vertrauten den Ratings für jene riskanten Immobilien-Papiere, die sich unter Stress als „toxisch“ erwiesen – d. h. als nahezu wertlos. Da man nicht wusste, wer in welchem Umfang in solche Werte investiert hatte, kam es anschließend zu einem fast vollständigen Vertrauensverlust, insbesondere zwischen den Banken. Pakete von anfänglich begrenzter Reichweite wurden „systemisch“.

Zweitens zeigte sich, dass Finanzinstitute mit ihren Funktionen für die Finanzmärkte derart wichtig werden können, dass ihr Ausfall unvorhersehbare und potenziell untragbare Risiken für die Gesamtwirtschaft zur Folge hätte: die berühmte „too big to fail“-Problematik.

Aus staatspolitischer Sicht ist es natürlich grundsätzlich inakzeptabel, Vorteile, also die Gewinne, „privat“ bei den Finanzinstituten zu belassen, während die Nachteile „sozialisiert“, d. h. der Gesellschaft und der Wirtschaft aufgebürdet werden. Dies birgt auch erhebliche moralische Risiken in sich, in der Volkswirtschaftslehre auch als Moral Hazard bekannt. Um zu verhindern, dass eine solche Situation jemals wieder eintritt, wurden weitreichende Reformen auf institutioneller wie auch regulatorischer Ebene initiiert. Bei dem berühmten Washingtoner Gipfeltreffen der G20 im Jahr 2008 verpflichteten sich die Verantwortlichen der G20, „zu gewährleisten, dass alle Finanzmärkte, Produkte und Akteure in für ihre Bedingungen angemessener Weise reguliert oder überwacht werden“, und gaben dem Finanzstabilitätsrat (Financial Stability BoardFSB) sowie anderen Standardsettern der globalen Finanzwirtschaft den Auftrag, rasch eine angemessene Regulierung für die Finanzwirtschaft zu erarbeiten. Es überrascht nicht, dass sich diese Reformen zunächst vor allem auf die Banken konzentrierten.

Eine vorrangige Aufgabe war dabei, systemrelevante Institute zu identifizieren, insbesondere auf globaler Ebene (Global Systemically Important Banks – G-SIBs). Angesichts der Bedeutung von Interbankgeschäften und der Verflechtungen der Banken untereinander, kombiniert mit der „too big to fail“-Problematik, liegt es auf der Hand, dass einzelne Banken oder Banken-gruppen dort den richtigen Bezugspunkt darstellen, um die Entstehung und aufsichtliche Behandlung von systemischen Risiken angemessen in den Blick zu nehmen.

Seit der Finanzkrise sind erhebliche Fortschritte dabei erzielt worden, sowohl eine Einstufungsmethode als auch unterschiedliche Arten von Aufsichtsmaßnahmen zur Identifizierung und Regulierung von G-SIBs zu entwickeln. Im Versicherungs– und im Wertpapiersektor ist es ungleich weniger offensichtlich, ob der Bezug auf Unternehmen der richtige Anknüpfungspunkt für Einordnung möglicher systemischer Risiken ist. Im Wertpapiersektor herrscht zwischenzeitlich Konsens, dass nicht Unter-nehmen, sondern Aktivitäten der primäre Bezugspunkt sind. In der Versicherungswirtschaft ist die Lage - einmal mehr – komplizierter. Aus meiner Sicht wird ein „hybrider Ansatz“ den Systemrisiken in der Versicherungswirtschaft – und darauf möchte ich mich heute fokussieren - am besten gerecht. Er beruht auf zwei konzeptionell unterschiedlichen regulatorischen Rahmen, deren Kombination meines Erachtens erforderlich ist, um Systemrisiken im Versicherungssektor regulatorisch angemessen zu erfassen. Maßgeblich für beide Rahmen ist dabei die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Systemrisiko.

Als direktes Systemrisiko sind die potenziellen Folgen für das Finanzsystem zu bezeichnen, dessen Verursacher ein einzelner Versicherer oder eine Versicherungsgruppe ist. Die Ursachen dafür liegen in den Aktivitäten oder den Produktmerkmalen des Unternehmens selbst. Kombiniert mit Größe und Verflechtungsgrad eines Versicherers könnte dies direkt zu Störungen systemweiten Ausmaßes im Finanzsystem führen. Das direkte Systemrisiko ist ein Erstrundeneffekt, bei dem das Versicherungsunternehmen selbst das Gesamtsystem einer systemischen Gefahr aussetzt.

Als indirektes Systemrisiko kann man die potenziell negativen Folgen für das Finanzsystem bezeichnen, die dann durch die Aktivitäten eines oder mehrerer Versicherungsunternehmen ausgelöst werden, wenn sie zusammen auf negative Ereignisse oder Schocks reagieren, denen sie selbst ausgesetzt waren. Somit sind es erst die gebündelten Reaktionen mehrerer Unternehmen, die zu systemischen Folgen für das Gesamtsystem führen. Wir haben es hier mit einem Zweitrundeneffekt zu tun. Beiden Aus-prägungen des systemischen Risikos ist gemein, dass Umfang und Schwere ihrer Konsequenzen die Funktionsweise des Finanzsystems ins-gesamt beeinträchtigen – und daher „systemisch“ wirken können. Zwischen direktem und indirektem Systemrisiko zu unterscheiden, ist aber relevant, weil jeweils sehr unterschiedliche regulatorische Antworten und Aufsichtsmaßnahmen abzuleiten bzw. zu entwickeln sind.

Meine Damen und Herren,

ein direktes Systemrisiko ist wie zuvor dargestellt dadurch gekennzeichnet, dass es einer bestimmten Versicherungsgesellschaft oder -gruppe konkret zugeordnet werden kann. Über die Einordnung wird anhand einer Einstufungsmethode entschieden, die von der Internationalen Vereinigung der Versicherungsaufsichtsbehörden, der IAIS, entwickelt und erstmals 2013 vom Finanzstabilitätsrat (FSB) angewendet wurde. Die IAIS hat nach drei Jahren eine überarbeitete Version der Einstufungsmethode veröffentlicht, die Verbesserungen infolge der Erfahrungen aus den Vorjahren integriert. Derzeit sind neun Versicherungsgruppen als sogenannte global systemrelevante Versicherungsunternehmen (G-SIIs) eingestuft.

G-SIIs sind eine Klasse der global systemrelevanten Finanzinstitute (Global Systemically Important Financial Institutions – G-SIFIs). Der FSB definiert sie als „Institute von solcher Größe, Marktrelevanz und globalen Verflechtung, dass eine Notlage oder ein Ausfall ihrerseits erhebliche Verwerfungen im globalen Finanzsystem und wirtschaftliche Folgeschäden in mehreren Ländern auslösen würde“. Entscheidend ist dabei, dass die Folgen einer möglichen Notlage eines Instituts zum Ausgangspunkt genommen wurden („impact of default“) und nicht die Wahrscheinlichkeit einer Notlage („probability of default“). Die Folgen einer Notlage eines einzelnen Institutes für das gesamte System können so gravierend sein, dass diese zum Ausgangspunkt aufsichtlicher Vorsorgemaßnahmen werden müssen, ungeachtet der Wahrscheinlichkeit eines Eintritts, die allzu leicht unterschätzt mehr. Auch dies ist eine Lehre aus der vergangenen Finanzkrise.

Zur Einstufung wird eine indikatorbasierte Bewertung angewendet, die mit der Methode für global systemrelevante Banken (G-SIBs) verwandt ist. Allerdings beeinflusst die spezifische Natur des Versicherungssektors selbstverständlich Auswahl, Gruppierung und Gewichtung der Indikatoren.

Die ausgewählten Indikatoren können in fünf Kategorien gruppiert werden:

  • in Größe
  • in den Grad an Internationalität
  • in das Ausmaß der Verflechtung
  • in solche Aktivitäten, die wir bisher etwas unscharf als „Non-traditional Non-insurance“ (NTNI) bezeichnet haben
  • und – last but not least – in die Ersetzbarkeit.

Die drei Hauptkategorien der Aufsichtsmaßnahmen für G-SIIs sind dabei:

  • Verstärkte Aufsicht, insbesondere auf Gruppenebene
  • Vorsorgliche Definition von Sanierungs- und Abwicklungsmaßnahmen
  • Notwendige Kapitalaufschläge zur Erhöhung der Verlustausgleichsfähigkeit (Higher Loss Absorbency – HLA) - entsprechend dem spezifischen Systemrisiko der betreffenden Versicherungsgruppe

Während die beiden ersten Aufsichtsmaßnahmen auch anderen Nicht-GSIIs auferlegt werden könnten, wird eine erhöhte Kapitalanforderung nur an G-SIIs gestellt.

Es lohnt sich, einen Blick auf einige Eigenheiten der G-SII-Methodik zu werfen. Da es nur sehr wenige G-SIIs gibt, ist eine explizite und detaillierte Ausarbeitung quantitativer und qualitativer Faktoren notwendig. Außerdem müssen die Wechselwirkungen Bestandteil eines mehrstufigen Einstufungsverfahrens sein. Dabei sind Trennlinien zu beachten: Um Verzerrungen aufgrund sehr spezialisierter Geschäftsmodelle zu vermeiden und gleichzeitig glaubwürdige Anreize als Belohnung für die Minderung von Systemrisiken zu bieten, muss außerdem genau ausgearbeitet werden, auf welche Weise absolute Referenzwerte oder Hilfskriterien in eine qualitative Bewertung einzubeziehen sind. Eine zu starke Ausrichtung zugunsten eines überwiegend relativen Rankings muss vermieden werden. Dies hat die IAIS im Rahmen der ersten Revision der Methodik bereits in Betracht gezogen. Es gilt, Erfahrungen mit den neuen Elementen zu sammeln und diese im Gesamtgefüge fortzuentwickeln und ggf. auszudehnen. Ziel muss sein, eine (höhere) Systemrelevanz für Versicherer unattraktiv zu machen. Wird das Systemrisiko ausreichend gemindert, ist die Anwendung des Kapitalaufschlags nicht erforderlich. Was die IAIS auch ausdrücklich als regulatorisches Ziel erklärt hat.

Im Zuge der Revision der Methodologie hat die IAIS parallel den prinzipienbasierten Ansatz für die bisher NTNI genannte Kategorie verfeinert, um bestimmte Produktmerkmale und Aktivitäten von einer sicheren Basis aus einstufen zu können. Dieses Element muss sich nun ebenfalls in der Praxis bewähren.

In diesem Zusammenhang beschäftigte die Frage nach einer angemessenen Berücksichtigung von Rückversicherungen im Rahmen der G-SII-Methode sowohl die Industrie als auch die Aufseher. Im Zuge der Modifikation der Methodik wurde dieses Jahr auch ein Instrumentarium entwickelt, die sogenannte „Ergänzende Rückversicherungsbetrachtung“ (Reinsurance Supplemental Assessment). Es kann zusätzlich herangezogen werden, um die Rückversicherungsaktivitäten von Unternehmen hinsichtlich ihrer möglichen systemischen Relevanz detailliert bewerten zu können.

Ob Rückversicherer prinzipiell Systemrisiken bewirken können, ist mindestens so ausgiebig diskutiert worden wie die entsprechende Fragestellung im Hinblick auf Erstversicherer. Aktuell erscheinen mir folgende Erwägungen relevant: Bislang gibt es keinen empirischen Beleg oder konzeptionellen Grund für die Annahme, dass das Geschäftsmodell der traditionellen Rückversicherung Systemrisiken bewirken kann.

Die größten globalen Rückversicherer können jedoch sehr komplexe Strukturen aufweisen und, wie Erstversicherer, auch „NTNI“-Geschäfte tätigen. Diese folgen ganz anderen Risikomustern als das Geschäftsmodell der traditionellen Rückversicherung. Es besteht daher kein Grund, Rückversicherer prinzipiell von der Anwendung der G-SII-Methode auszuschließen oder eine völlig andere Methode zu entwickeln. Eine Methode, die faktisch alleine Größe oder Verflechtung sanktionieren würde - ohne einen deutlichen Bezug zu NTNI-Aktivitäten – also meines Erachtens daher nicht akzeptabel.

Im Gegenteil: Bei den Rückversicherern verringern Größe und Verflechtung das (systemische) Risiko, statt es zu verstärken. Mehr sogar als auf der Seite der Erstversicherung. Verflechtung als solche bewirkt kein Systemrisiko, weder für Erst- noch für Rückversicherer, aber sie verstärkt Systemrisiken, insoweit sie auf „NTNI“-Aktivitäten beruhen.

Kommen wir zu der Frage nach einer möglichen Erhöhung der Verlustausgleichsfähigkeit als zusätzlichem Kapitalzuschlag. Die Auferlegung einer HLA dient einem doppelten Zweck: Erstens soll sie Versicherer motivieren, Systemrelevanz zu vermeiden bzw. ihr Systemrisiko zu mindern. Außerdem soll sie die Gefahr eindämmen, die sich aus einem in Not geratenen G-SII für das Finanzsystem insgesamt ergeben könnte. Der erste Zweck ist einleuchtend und im Prinzip unumstritten; der zweite stößt dagegen aus mindestens zwei Gründen auf Widerstand: Erstens erfordere eine „Higher“ Loss Absorbency für G-SIIs notwendigerweise einen klar definierten und mindestens vergleichbaren globalen Kapital-standard, der als Basis für Verlustausgleichsfähigkeit (Loss Absorbency – LA) dient und auf dem eine HLA aufgesattelt werden könnte.

Zweitens sei, so die Kritiker, eine HLA, selbst wenn sie einwandfrei festgelegt werden könnte, ein wesensfremdes und folglich ungeeignetes Mittel für die Versicherungswirtschaft. Solvabilitätsquoten werden dort bekanntlich unter bestimmten Risikoannahmen berechnet, im Wesentlichen als Deckung für entsprechende Verbindlichkeiten. Und dies überwiegend auf Grundlage versicherungstechnischer Rückstellungen. Für einen zusätzlichen Kapitalaufschlag sei da schon konzeptionell kein Platz.

Der erste Einwand ist berechtigt. Denn im Unterschied zum Bankensektor fehlt bei Versicherungen derzeit ein Rahmenwerk, aus dem ein globaler Kapitalstandard für international tätige Gruppen (Internationally Active Insurance Groups - IAIGs) ableitbar wäre. Einen solchen globalen Kapitalstandard für Versicherungen (Insurance Capital Standard – ICS) zu entwickeln, ist eines der wichtigsten Projekte der IAIS. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, bis Ende 2019 eine implementierbare Version bereitzustellen. Schon Ende 2014 wurde eine einfache, faktorbasierte Basiskapitalanforderung (Basic Capital Requirement – BCR) entwickelt. Sie dient als sogenannter Backstop und Kapitalstandard für eine erste Version der Ende 2015 bereitgestellten HLA. Es liegt auf der Hand, dass die derzeitige Kombination von BCR und HLA sich mit der Zeit verändern und präziser werden wird. Schließlich soll der ICS als viel höher entwickeltes, nämlich marktorientiertes und risikosensitives Instrument zur Risikomessung die BCR ablösen.

Der zweite Einwand ist grundsätzlicher. Tatsächlich bezeichnet „Kapital“ im Versicherungssektor nicht, wie im Bankensektor, verschiedene Kapitalkomponenten, anhand derer eine Bank ihr als risikogewichtete Aktiva gemessenes Geschäftsportfolio aufbauen kann.

Ein Versicherer akzeptiert demgegenüber Verbindlichkeiten, die durch Prämienzahlungen vorausbezahlt werden, und die Solvabilitätsquote beschreibt die regulatorisch erforderliche Mittelausstattung, auf deren Grundlage ein Unternehmen die Vorschriften für versicherungstechnische Rückstellungen erfüllen und gleichzeitig die Deckung durch Eigenmittel jederzeit gewährleisten kann.

Das Solvenzkapital wird anhand von Standard- oder internen Modellen berechnet. Allerdings ist aus genau diesem Grund nicht nur die Bedeutung von „Kapital“ grundlegend anders, sondern auch die Steuerungswirkung der vorgeschriebenen Kapitalausstattung bzw. der Solvenz: Da die vorgeschriebene Mindestkapitalausstattung in einer Bankbilanz das Ausmaß ihres Geschäfts unmittelbar begrenzt – und es kostspielig ist, Kapital vorzuhalten - neigen Banken dazu, nicht zu viel überschüssiges Kapital in Reserve zu haben. Wenn das Kapital einer Bank nahe der Mindestanforderung liegt und dies durch einen mehrjährigen Ausblick und geeignete Stresstests ergänzt wird, dann ist sie aus regulatorischer Sicht in guter Verfassung und bietet dem Management oder der Aufsichtsbehörde keinen Grund zur Sorge.

Bei den Versicherern ist das anders: Aufgrund der langfristigen Natur ihres Geschäftsmodells halten sie, zusätzlich zu ausreichenden Rückstellungen, regelmäßig Eigenmittel – d. h. „Kapital“ – in weit größerer Höhe als der vorgeschriebenen oder gar der Mindesthöhe. Solvabilitätsquoten von mehr als dem Doppelten der vorgeschriebenen Höhe sind keine Seltenheit. Solvenzquoten von unter 150 % auf Gruppenebene können bereits zu Nachfragen seitens der Aufsichtsbehörde führen. Quoten unter 125 % würden zwar noch nicht unausweichlich ein Rettungsszenario auslösen, aber mit Sicherheit würde sich die Aufsichtsbehörde aktiver einschalten. Mit anderen Worten: Nicht nur die Bedeutung von „Kapital“ ist bei Versicherern eine andere als bei Banken, sondern auch die Wirkung von Grenzwerten oder PCRs ist unterschiedlich. Dieser Unterschied wird häufig übersehen.

Mit Blick auf ein HLA-Konzept bedeutet dies lediglich, dass die tatsächliche Solvabilitätsquote, die jede Versicherungsgruppe weit über die vorgeschriebene Solvenzquote hinaus wirklich vorhält, sehr wahrscheinlich immer die Kombination aus PCR und HLA übertreffen wird. Anders als in der Bankenregulierung, wo Kapitalaufschläge unmittelbar eine geschäftslimitierende Wirkung entfalten und entfalten sollen, wirkt eine HLA in der Versicherungsregulierung eher wie ein Frühwarnindikator, der zwischen Mindestanforderungen und tatsächlich vorgehaltenem Eigenkapital seine Bedeutung hat. Andernfalls gäbe eine solche Versicherungsgruppe einer Aufsichtsbehörde schon aus ganz anderen Gründen als dem Systemrisiko, nämlich „konventionellen“ Gründen, Anlass zur Sorge.

Meine Damen und Herren,

nun zum Thema indirektes Systemrisiko. Wie bereits eingangs erwähnt werden unter diesem Begriff die potenziellen Folgen definiert, die das Finanzsystem aufgrund der Aktivitäten mehrerer Unternehmen oder Gruppen erleiden könnte. Beispiele wären ein plötzlicher Wertverlust be-stimmter Staatsanleihen, der Ausfall eines oder mehrerer Emittenten von gedeckten Schuldverschreibungen, ein plötzlicher, massiver Einbruch der Aktienmärkte oder eine längere Phase sehr niedriger Zinssätze. Es han-delt sich beim indirekten Risiko immer um einen Zweitrundeneffekt. Es trifft zwar zu, dass bereits bei der Methode zur Ermittlung von G-SIIs indirekte Risikoelemente betrachtet werden, die berücksichtigen, dass Unternehmen externen Ereignissen oder Schocks ausgesetzt sind. Kon-zeptionell sind sie dort jedoch begrenzt auf die Ermittlung einzelner Un-ternehmen, sie bleiben sozusagen „unternehmenszentriert“. Im Kontext des indirekten Systemrisikos geht es allerdings um externe Schocks oder Ereignisse, die erst durch ihre Auswirkungen auf viele Versicherer und deren mögliche kollektive Reaktionen darauf „systemisch“ werden.

Die erste Komponente des hybriden Ansatzes, die G-SII-Methode, ist konzeptionell offensichtlich ungeeignet, Systemrisiken aufgrund ihrer Wirkungen auf eine Vielzahl von Versicherern und deren kollektiven Re-aktionen korrekt zu erfassen. Sie muss durch eine zweite Komponente ergänzt werden, die explizit Sicherungsmechanismen für eben dieses kol-lektive Verhalten betrifft.

Dies ist die Domäne allgemeiner Versicherungsregulierung. Sei es auf na-tionaler Ebene - etwa beim Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) in Deutschland – oder auf Ebene einer supranationalen Region, wie bei der Solvency-II-Richtlinie in Europa. Auf globalem Level entspräche dies den Prinzipien der IAIS zur Versicherungsaufsicht (Insurance Core Prin-ciples – ICPs) und dem globalen Rahmenwerk ComFrame für IAIGs so-wie der aktuell laufenden Entwicklung des globalen Kapitalstandards ICS.

Traditionell liegt der Fokus in der allgemenen Versicherungsregulierung allerdings eher auf dem Schutz der Versicherungsnehmer und weniger auf Finanzstabilität. Natürlich tragen viele Facetten der traditionellen Re-gulierung auch zur Finanzstabilität bei: Denken wir an die Anforderun-gen an das Solvenzkapital, das Risikomanagement, versicherungstechni-sche Rückstellungen oder Risikomargen.

Dass der Schutz der Versicherungsnehmer im Mittelpunkt der Versiche-rungsregulierung bleiben sollte, versteht sich von selbst. Trotzdem fehlt ein systematischerer und expliziterer Rahmen auch für die Behandlung systemischer Risiken, die auf kollektivem Verhalten vieler Versicherer beruhen. Wir dürfen daher nicht davon ausgehen, dass die G-SII-Methode allein ausreichen wird, um allen Systemrisiken zu begegnen. Das hat auch die IAIS verstanden und sucht nach geeigneten Lösungen. In vielen Fällen ist und bleibt die allgemeine Versicherungsregulierung gefordert.

Die Beispiele hierfür sind zahlreich. Ich werde mich auf einige wenige davon beschränken.

1. Diversifizierung
Indirekte Systemrisiken können sich durch ein Überengagement mehre-rer Versicherer in einer bestimmten Anlageklasse im gesamten Sektor ausbreiten. Etwa dann, wenn eine Anlageform ausfällt oder dramatisch an Wert verliert – und die Unternehmen allesamt parallel in eine Rich-tung aktiv werden. Instrumente, die eine hinreichende Diversifikation sicherstellen, dienen daher nicht nur der Absicherung von Versiche-rungsverbindlichkeiten, sondern haben auch eine systemische Dimensi-on. Die derzeit noch geltende Nullgewichtung von Staatsanleihen stellt in diesem Zusammenhang einen offensichtlichen Fehlanreiz dar. Eine Auf-gabe, die regulatorisch erkannt, aber bedauerlicherweise nicht so einfach gebannt ist.

2. Rückkauf – und Stornopolitik
Zumindest theoretisch kann ein unerwünschtes massenhaftes Stornover-halten von Kunden unter bestimmten Marktannahmen nicht ausge-schlossen werden. Es bedarf daher sowohl auf Unternehmens- als auch auf Aufsichtsebene entsprechende Sicherungsmechanismen, die in man-chen Ländern existieren, in anderen aber nicht oder nur sehr unzu-reichend.

3. Modellrisiko
Interne Modelle sind wichtige Instrumente, um das reale Risiko zu erfas-sen. Ihre Anwendung ist natürlich nicht auf G-SIIs beschränkt. So sehr das Prinzip, individuelle Risikomodelle zu erstellen, auch Unterstützung verdient, es birgt doch eine Reihe von Risiken. Beispiele hierfür sind un-zureichende Formeln, falsche Annahmen oder ein allgemeiner Trend, Ergebnisse im Sinne des jeweiligen regulatorischen Systems zu optimie-ren. Die Kombination und die gegenseitige Verstärkung solcher Nachtei-le von Modellen sind es, die Systemrisiken bewirken können. Hier wer-den wir weitere regulatorische Erfahrungen sammeln müssen und ggf. beschränkende Elemente in die allgemeine Regulierung einfügen – ein Vorgang, der nicht zufällig an die parallele Diskussion auf der Banken-seite in Basel erinnert.

Natürlich können diese Beispiele, die Bestandteil eines allgemeinen regu-latorischen Rahmens für Versicherungen sein müssen, noch ergänzt wer-den. Wichtig ist, dass viele Aspekte zwar grundsätzlich erkannt und auch angegangen werden. Was allerdings fehlt, ist ein konsistenter globaler Rahmen mit Prinzipien und Kriterien für ein effektives Management der indirekten Systemrisiken, die durch kollektives Verhalten ausgelöst wer-den. Nur mit einem umfassenden hybriden Ansatz aus einer unterneh-menszentrierten G-SII-Methode und allgemeiner Regulierung, egal ob bereits etabliert oder ggf. noch zu entwickeln, können Aufseher und Ri-sikomanager konsequent systemischen Risiken auch in der Versiche-rungswirtschaft begegnen.

Ein solcher Rahmen kann im Übrigen auch das enthalten, was wir seit geraumer Zeit „makroprudenzielle“ Perspektive nennen, es ist damit aber nicht identisch. Der Unterschied zwischen den beiden Teilen des –hier vorgestellten - hybriden Ansatzes – G-SII bzw. allgemeine Regulierung – ist nämlich nicht der gleiche wie zwischen mikro- und makroprudenziel-ler Perspektive. Die G-SII-Methode stützt sich in gleichem Maße auf mikro- wie makroprudenzielle Analysen und Erkenntnisse. Ebenso ver-wandeln sich traditionelle oder selbst auf Finanzstabilität ausgerichtete allgemeine Regulierungen nicht per se in makroprudenzielle Instrumente, nur weil sie alle Unternehmen unter ihrer Rechtshoheit betreffen. Welche Kombination von Strategien und Instrumenten am besten geeignet ist, um neue regulatorische und aufsichtliche Antworten auf Systemrisiken zu formulieren, muss sich durch die weitere Arbeit erweisen.

Meine Damen und Herren,

die Existenz von Systemrisiken ist eine zentrale Erkenntnis der Finanzkrise. Sie darf nicht vernachlässigt werden, auch nicht in der Versicherungsbranche. Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, hier für eine mögliche Annährung an dieses Problem zu werben. Es würde mich freuen, wenn Sie aus der heutigen Veranstaltung mitnehmen, dass, anders als im Film „Per Anhalter durch die Galaxis“, die Antwort auf alle Fragen hierzu nicht 42, sondern „hybrider Ansatz“ lautet.

Wie genau die nächste Finanzkrise mit systemischen Elementen entstehen könnte, weiß niemand. Es scheint aber mindestens so wahrscheinlich, dass sie durch kollektives Verhalten vieler Versicherer ausgelöst werden könnte, wie durch sehr wenige G-SIIs. Andererseits ist die Bedeutung allgemeiner Versicherungsregulierung, die sie neben dem traditionellen Schutz der Versicherungsnehmer auch mit Blick auf Systemrisiken und Probleme der Finanzstabilität haben muss, bislang vernachlässigt worden.

Ein einheitlicher hybrider Ansatz trägt auch der Tatsache Rechnung, dass die Art und Weise, wie Systemrisiken in der Versicherungswirtschaft begegnet werden sollte, methodisch irgendwo zwischen dem Banken- und dem Non-Bank-Non-Insurance-Sektor angesiedelt ist. Wie in der Bankenregulierung können und sollten Versicherungsunternehmen unter bestimmten Bedingungen – unter Anwendung einer unternehmenszentrierten Methode als GSIIs, das heißt als potenziell systemrisikobehaftet, angesehen werden. Doch wird die Liste solcher Unternehmen aus den oben beschriebenen Gründen eher begrenzt bleiben. Große und bedeutende Teile des (indirekten) Systemrisikos müssen – eher wie im NBNI-Sektor – im Rahmen der allgemeinen Versicherungsregulierung durch eine aktivitätenorientierte Methodik erfasst werden. Der hybride Ansatz kombiniert beides.

Meine Damen und Herren,

ich weiß, dass ich Ihnen hier recht schwere und teils abstrakte konzeptionelle Kost vorgesetzt habe. Dafür bitte ich um Nachsicht. Es ist aber ein sehr realer und aktueller Einblick in eine der relevantesten regulatorischen Debatten, die in der Gemeinschaft der weltweiten Versicherungsregulierer derzeit geführt wird – mit potenziell enormer rechtlicher wie auch politischer Tragweite. Die gerichtlichen Auseinandersetzungen, die genau über diese Themen in den USA im Augenblick geführt werden, legen dazu ein beredtes Zeugnis ab.

Für uns Regulierer ist der stete Dialog nicht nur mit der Industrie, sondern auch mit der akademischen Welt daher unverzichtbar. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf Ihre Fragen!

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