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Erscheinung:12.05.2015 Jahrespressekonferenz der BaFin 2015

Rede von Felix Hufeld, Präsident der BaFin, am 12. Mai 2015 in Frankfurt am Main

- Es gilt das gesprochene Wort -

Auch ich begrüße Sie herzlich zu unserer Jahrespressekonferenz, geehrte Damen und Herren.

Sie sehen unser Direktorium noch nicht wieder in voller Besetzung. Aber immerhin sind wir nun wieder zu viert. Frau Roegele ist seit wenigen Tagen mit an Bord. Dass wir sie als Nachfolgerin von Herrn Caspari gewinnen konnten, freut mich außerordentlich. Frau Roegele, Sie sind eine Rückkehrerin, was für die BaFin spricht – und für Sie.

Meine Damen und Herren, langsam ahne ich, wie es ist, in einer Zeitschleife gefangen zu sein. Jeden Morgen klingelt der Wecker, und unser Bemühen, die Folgen der andauernden Niedrigzinsphase in den Griff zu bekommen, beginnt von vorne – „Und täglich grüßt das Murmeltier“. 1993 ist dieser Film erschienen. In jenem Jahr lag die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen durchschnittlich bei 6,4 Prozent. Der Filmheld entkommt der Zeitschleife durch Läuterung. Auch wir bemühen uns ständig, bessere Menschen zu werden, aber was die niedrigen Zinsen angeht, ist die Sache leider nicht so einfach. Zumal wir Aufseher die Ursachen nicht beeinflussen können. Wir müssen uns, wie gesagt, mit den Folgen beschäftigen.

Besonders stark leiden die Lebensversicherer: Unter den herrschenden Zinsbedingungen gehen die Erträge ihrer Kapitalanlagen schneller zurück als die garantierten Zinsen im Bestand. Das ist bekannt. Wie geht es nun weiter? Droht der deutschen Lebensversicherungsbranche eine Insolvenzwelle? Bekommen wir japanische Verhältnisse?
Derlei Spekulationen helfen nicht weiter. Wir Aufseher wollen und müssen es so genau wie möglich wissen. Deswegen verlangen wir von den Unternehmen immer wieder Prognoserechnungen. Wir wollen auch wissen, wie die Lage der Lebensversicherer unter Solvency-II-Bedingungen aussähe. Nach unserer letzten „Vollerhebung Leben“ ist das Zinsniveau weiter gefallen, wenn man einmal von den Ausschlägen der vergangenen Tage absieht. Wir haben die Versicherer daher noch einmal gebeten, uns die wichtigsten Solvency-II-Kennzahlen vorzulegen – und zwar unter den Marktbedingungen, die Ende 2014 herrschten. Abgabetermin ist der 3. Juni.

Unser derzeitiges Gesamtbild zeigt eine Branche, die als Ganzes widerstandsfähig ist. Aber ohne der Erhebung vorzugreifen, lässt sich schon heute eines feststellen: Die deutschen Versicherer werden den Einstieg in die Welt von Solvency II nur mit erheblicher Anstrengung schaffen – trotz der Übergangsregelungen und der Volatilitätsanpassung, die das Regelwerk nun vorsieht. Und sollten die Zinsen weiter so niedrig bleiben, werden wir auch mehr Unternehmen in die aufsichtliche Manndeckung nehmen müssen.

Um ihre Garantieversprechen trotz niedriger Zinsen erfüllen zu können, müssen die Lebensversicherer, wie Sie wissen, seit 2011 eine Zinszusatzreserve bilden. Allein im vergangenen Jahr haben die Unternehmen mehr als acht Milliarden Euro dafür aufgewendet – wahrlich ein Kraftakt. Ende 2014 belief sich die Zinszusatzreserve branchenweit auf rund 21 Milliarden Euro. Seitdem ist das Zinsniveau bekanntlich höchst volatil, die Versicherer könnten daher gezwungen sein, eine noch größere Reserve aufzubauen, was einen noch größeren Kraftakt erfordern würde. Grundsätzlich steht für mich der Sinn der Zinszusatzreserve außer Frage; sie stärkt das Herzstück der deutschen Lebensversicherung, das Garantieversprechen. Wir werden aber im Blick behalten, auf welche Weise in den nächsten Jahren die Stärkung der Deckungsrückstellung durch die Zinszusatzreserve mit anderen aufsichtlichen Kernzielen ausbalanciert werden muss, etwa mit der Risikotragfähigkeit und der Solvenzdeckung. Branche und Deutsche Aktuarvereinigung haben bereits eine Neukalibrierung der Zinszusatzreserve vorgeschlagen.

Auch das Lebensversicherungsreformgesetz aus dem vergangenen Jahr federt die Auswirkungen des Niedrigzinsniveaus ab – vor allem durch die Neureglung der Beteiligung an den Bewertungsreserven. Es ist Ihnen nicht neu, dass wir uns dazu seinerzeit sehr deutlich positioniert haben. Die alte Regelung wirkte prozyklisch und war ungerecht. Nun ist es so, dass ausscheidende Versicherte nicht an den Bewertungsreserven aus festverzinslichen Wertpapieren beteiligt werden dürfen, wenn diese benötigt werden, um die Garantien zu sichern, die den Bestandskunden zugesagt worden sind. Eine Lösung, die die legitimen Interessen zweier Verbrauchergruppen auf faire Weise ausbalanciert, die der ausscheidenden und die der verbleibenden Versicherten.

Meine Damen und Herren, auch die deutschen Banken leiden bekanntlich verstärkt unter dem niedrigen Zinsniveau. Verwunderlich ist das nicht, denn der Zinsüberschuss macht traditionell rund zwei Drittel ihrer operativen Erträge aus, und nicht an jeder Straßenecke sprudeln alternative Ertragsquellen. Wir werden in Kürze unter den Banken, die wir nach wie vor direkt beaufsichtigen, erneut eine Niedrigzinsumfeld-Umfrage durchführen, um uns auch hier ein möglichst genaues Bild zu machen und angemessen reagieren zu können.

Es wird darum gehen, in unterschiedlichen Szenarien die Gewinn- und Verlustrechnung zu prognostizieren. Neben den Szenarien „langfristiges Niedrigzinsumfeld“, „plötzlicher Zinsanstieg“ und „weitere Zinssenkung (mit negativen Zinsen)“ wollen wir auch Stresseffekte berücksichtigen, die sich auf das Kredit- und Marktrisiko auswirken. Abrunden werden wir die Übung, indem wir die Institute nach ihren eigenen Planungen befragen.

Ebenso genau betrachten wir natürlich die Bausparkassen, die ein Modell kollektiven Sparens betreiben und ebenfalls stark von der Niedrigzinsphase betroffen sind. Die Institute haben bereits auf das niedrige Zinsniveau reagiert und sie tun es weiterhin – und zwar vor allem, indem sie im Neugeschäft die Zinsen ihrer Bauspartarife weiter senken. Positive Effekte können sich aber erst nach mehreren Jahren zeigen. Wie stark sie dann sind, hängt davon ab, wie hoch das aktuelle Marktzinsniveau sein wird – und wie attraktiv angesichts dessen der jeweilige Tarif.
Ein Steuerungsinstrument, das kurzfristig wirkt, ist die Kündigung von übersparten Bausparverträgen. In den vergangenen Monaten haben die Institute auch Bausparverträge gekündigt, die schon seit mindestens zehn Jahren zuteilungsreif waren. Erst vor wenigen Tagen war in der Presse zu lesen, die BaFin unterstütze die Bausparkassen darin, solche Verträge zu kündigen. Zuvor hatte es sogar geheißen, wir forderten sie dazu auf. Beides stimmt nicht. Ob sie Bausparverträge kündigen oder auch nicht, entscheiden die Geschäftsleiter, nicht wir. Ob diese Kündigungen zivilrechtlich zulässig sind, entscheiden die Gerichte.

Lassen Sie uns nun einen Blick auf weitere Aspekte unserer Arbeit werfen. Sie verändert sich substanziell, vor allem wird sie internationaler und europäischer – und zwar regulatorisch und institutionell. Seit etwa viereinhalb Jahren ist die BaFin auf verschiedenen Ebenen eingebunden in das Europäische System der Finanzaufsicht, das die EU nach Ausbruch der globalen Finanzkrise etabliert hat, um den europäischen Finanzmarkt besser gegen ebensolche Ereignisse zu wappnen. Mittlerweile hat sich dieses System recht gut eingespielt, wenn es auch – wenig überraschend – nicht immer frei von Interessenkonflikten und Spannungen ist.

Die europäischen Aufsichtsbehörden geben sich heute selbstbewusst – zuweilen sehr selbstbewusst. Da werden gelegentlich mehr Daten angefordert als aus unserer Sicht nötig. Da wird versucht, in den Aufsichtskollegien mehr Einfluss auszuüben als vorgesehen. Und da werden mitunter Regulierungsstandards und Leitlinien entworfen, die über das eigentliche regulatorische Ziel hinausschießen. Der Entwurf eines Regulierungsstandards der Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA zur MiFID II, mit dem faktisch die Provisionsberatung im Anlagegeschäft verboten worden wäre, ist bekanntlich bei Vertretern des Europäischen Parlaments auf deutliche Kritik gestoßen.

Leitlinien können ESMA und ihre Schwesterbehörden EBA und EIOPA grundsätzlich selbständig verabschieden – basierend auf Entscheidungen ihrer Boards. Das ist im Grundsatz unstreitig. De jure sind diese Guidelines auch nicht verbindlich. De facto gibt es aber einen deutlichen Umsetzungsdruck, denn die nationalen Aufsichtsbehörden müssen es, wie Sie wissen, begründen, wenn sie sie nicht anwenden wollen.
Und das tut die BaFin auch, wenn sie im Einzelfall zu dem Schluss kommt, dass Leitlinien aus deutscher Sicht nicht angemessen sind. So erst kürzlich geschehen bei einem Konvolut von EIOPA-Leitlinien zu Solvency II, von denen wir in Deutschland einige nicht anwenden werden. Selbstverständlich fühlen wir uns als BaFin dem Grundsatz europafreundlichen Handelns verpflichtet, der in Deutschland übrigens Verfassungsrang genießt. Das heißt aber nicht, dass wir unreflektiert oder gar blind sämtliche Leitlinien übernehmen. Auch hierbei gilt es immer wieder, die richtige Balance zu finden.

Als dieses System der Europäischen Finanzaufsicht eingerichtet wurde, sprach man von einem Riesenschritt in Richtung Zentralisierung. Zu Recht, obwohl man die eigentliche, also die operative Aufsicht damals eben nicht europäisierte (wenn man einmal von der Zuständigkeit der ESMA für Rating-Agenturen absieht). Das tat man erst am 4. November vergangenen Jahres, als man das Mandat für die Aufsicht über die Banken der Eurozone dem Single Supervisory Mechanism (SSM) übertrug, einem Aufsichtsnetzwerk unter der Führung der Europäischen Zentralbank (EZB). Die bedeutenden Institute des Euroraums – darunter 21 deutsche – beaufsichtigt der SSM seitdem unmittelbar.

Doch auch wenn das Letztentscheidungsrecht bei der EZB liegt, verfolgen SSM und die jeweils zuständigen nationalen Aufseher ausdrücklich einen gemeinsamen Aufsichtsansatz. Es ist also nicht so, als spielte die BaFin bei der Aufsicht über die bedeutenden Institute keine Rolle mehr. Im Gegenteil: Das fundierte Wissen meiner Kollegen in der Bankenaufsicht ist weiterhin unverzichtbar, und das weiß man nirgendwo besser als in der EZB, die sich nicht ohne Grund wünscht, dass sich die nationalen Behörden stark engagieren. Dieser Wunsch deckt sich mit unserem Anspruch, weiterhin relevante Aufsicht zu betreiben.

Natürlich ist nun vieles anders als zuvor. Der SSM verfolgt einen sehr viel stärker quantitativen, also kennzahlenbasierten Ansatz, was zweifellos der besseren Vergleichbarkeit der Institute dient. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden – jedenfalls solange wir uns einig sind, dass gute Aufsicht im Einzelfall, und Aufsicht muss sich immer im Einzelfall bewähren, auch eine qualitative, abwägende und beurteilende Komponente haben muss.

Die Vorstellung, dass aufsichtliche Entscheidungen allein Ergebnis einer mechanistischen, kennzahlen- oder entscheidungsbaumgestützten Deduktion sein könnten, mag für manchen ein schöner Traum sein, geht aber an der Realität vorbei und kann daher nicht Leitbild unseres Aufsichtshandelns sein. Die richtige Mischung aus quantitativer und qualitativer Aufsicht wird sich auch im SSM erst finden müssen. Ich bin mir sicher, dass uns das gemeinsam gelingt.
Die vielen so genannten weniger bedeutenden Institute, von denen etwa die Hälfte, nämlich rund 1.600, deutsche sind, beaufsichtigt die EZB nur mittelbar. Diese Banken stehen also weiterhin unter nationaler Aufsicht, was auch sinnvoll ist. Allerdings setzt die EZB auch hier die Rahmenbedingungen, indem sie einheitliche Aufsichtsstandards vorgibt. Auch das ist sinnvoll. Die zum Teil sehr unterschiedlichen Aufsichtspraktiken in den Ländern des Euroraums müssen weiter vereinheitlicht werden – sofern nicht nationale rechtliche Gegebenheiten und erhaltenswerte nationale Besonderheiten betroffen sind. Nur was gleich ist, sollte gleich reguliert werden.

Die EZB entwickelt ihre Standards gemeinsam mit uns nationalen Aufsehern. In die Verhandlungen gehen wir als überzeugte Europäer und nutzen zugleich die Möglichkeit, unseren nichtdeutschen Kollegen die Charakteristika des deutschen Bankenmarkts zu vermitteln, was gelegentlich keine leichte Übung ist. Aber wir werden weiterhin Überzeugungsarbeit leisten. Daneben gilt es gerade bei den Less Significant Institutions, auf die Angemessenheit administrativer Anforderungen zu achten. Nicht Maximalismus, sondern Proportionalität ist das Leitmotiv, dem wir uns als BaFin verpflichtet fühlen.

Sie sehen, meine Damen und Herren, unsere Arbeit wird im Zuge der aufsichtlichen Europäisierung nicht weniger wichtig. Aber sie ändert sich. Auch wir Aufseher müssen umdenken. Es geht nun darum, unsere Autorität, die traditionell auf unserer unmittelbaren, exekutiven Anordnungsbefugnis beruhte, zu ergänzen durch eine Autorität, die auf sachlich hoch qualifizierter und zugleich taktisch kluger Einflussnahme beruht. Wir dürfen verlorener Macht nicht nachweinen, wir müssen sie durch konstruktiven Einfluss ersetzen – im SSM, im Europäischen System der Finanzaufsicht und auch auf globaler Ebene.

Ein weiteres wichtiges Element der europäischen Bankenunion ist der Single Resolution Mechanism (SRM), der zu Beginn dieses Jahres an den Start gegangen ist. Anfang 2016 wird das Single Resolution Board (SRB) unter Leitung von Frau Dr. König seine vollen Befugnisse für die Abwicklung von bedeutenden und grenzüberschreitend agierenden Banken der Eurozone übernehmen. Die Schaffung der europäischen Bankenunion mit SSM und SRB, mit ihren rechtlichen Grundlagen für Banken, für deren Abwicklung und zur Einlagensicherung, gilt als eine der wichtigsten europäischen Reformen seit der Einführung des Euro. Das EU-Projekt Kapitalmarktunion ist – trotz der Namensverwandtschaft – kein unmittelbar vergleichbares Vorhaben. Die Motive der Kommission sind hierbei weniger regulatorischer als wirtschaftspolitischer Natur.

Dagegen lässt sich selbstverständlich nichts sagen, solange diese Motive nicht durch den Abbau finanzregulatorischer Vorgaben umgesetzt werden. Diese Warnung muss mir als Aufseher erlaubt sein. Es ist völlig in Ordnung, Investitionen von Versicherern, Pensionskassen und -fonds in Infrastrukturprojekte zu fördern, vorausgesetzt, man verharmlost die Risiken nicht, die dabei entstehen können, und stellt entsprechende Anforderungen an ein angemessenes Risikomanagement. Sonst wird die nächste Blase förmlich programmiert.

Es ist auch in Ordnung, kapitalmarktbasierte Finanzierungsformen zu stärken, auch Verbriefungen, wenn wir die schmerzhaften Lektionen der Finanzkrise dabei nicht vergessen. Grundsätzlich wüsste ich allerdings nicht, warum wir uns in Deutschland einreden lassen sollten, eine kapitalmarktorientierte Finanzierung sei einer bankbasierten Finanzierung strukturell überlegen, zumal für eine so stark mittelständisch geprägte Wirtschaft wie die unsrige. Aber gleichgültig, ob Kapitalmarkt oder Banken: Entscheidend ist, dass beide Finanzierungswege auch in Krisenzeiten belastbar bleiben und man nicht mit zu laxen Kapital- oder Risikomanagementvorgaben die Realwirtschaft, Investoren und letztlich den Steuerzahler im Regen stehen lässt.

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch einen kurzen Blick auf ein Thema, das zu Recht aus der Finanzaufsicht nicht mehr wegzudenken ist: den kollektiven Verbraucherschutz. Er soll mit dem Kleinanlegerschutzgesetz als Aufsichtsziel für alle Geschäftsbereiche der BaFin gesetzlich verankert werden. Damit setzt der Gesetzgeber ein deutliches Zeichen: Der Schutz des Verbraucherkollektivs ist ein hohes öffentliches Gut. Die BaFin wird daher die Möglichkeit erhalten, in allen Aufsichtsbereichen verbraucherschutzrelevante Missstände zu verhindern oder zu beseitigen, wenn eine generelle Klärung im Interesse des Verbraucherschutzes geboten erscheint.

Die BaFin soll also weiterhin ausschließlich im öffentlichen Interesse tätig werden. Der Schutz einzelner Verbraucher bleibt den privatrechtlichen Verbraucherschutz- und Ombudsorganisationen überlassen, die dieser Aufgabe, wie Sie alle wissen, nachdrücklich nachkommen, und letztlich der Gerichtsbarkeit.

Ein verbraucherschutzrelevanter Missstand in diesem Sinne kann insbesondere dann bestehen, wenn – ich zitiere – „ein erheblicher, dauerhafter oder wiederholter Verstoß gegen ein Verbraucherschutzgesetz [vorliegt], der […] die Interessen nicht nur einzelner Verbraucherinnen oder Verbraucher gefährden kann oder beeinträchtigt.“

Laut Gesetzesbegründung liegt ein solcher Missstand vor allem dann vor, „wenn ein Institut oder Unternehmen […] eine einschlägige Entscheidung des Bundesgerichtshofes zur Anwendung einer zivilrechtlichen Norm mit verbraucherschützender Wirkung nicht beachtet“. Auch in Fällen, in denen die BaFin Kenntnis von systematischen oder gewichtigen Verstößen gegen verbraucherschützende Rechtsvorschriften erhalte und in absehbarer Zeit kein höchstrichterliches Urteil zu erwarten sei, habe sie die Möglichkeit einzuschreiten.

Das bedeutet mehr Handlungsfähigkeit und mehr Verantwortung. Die Materie ist anspruchsvoll. Es werden sich schwierige Abwägungsfragen stellen, etwa wenn die Interessen verschiedener Verbrauchergruppen kollidieren. Möglicherweise geraten wir bei Fragen des Verbraucherschutzes auch in ein Spannungsverhältnis zu Fragen der Risikotragfähigkeit eines Unternehmens oder der Finanzstabilität.

Da gilt es, kluge und ausgewogene Antworten zu finden, und es ist genau die Tatsache, dass wir eine Allfinanzaufsicht sind, die uns in besonderer Weise in die Lage versetzt, diese Abwägungen in qualifizierter Weise vorzunehmen. Wir freuen uns daher sehr auf eine gute Zusammenarbeit mit dem kürzlich etablierten Finanzmarktwächter, der als privatrechtlich organisierter, sehr markt- und verbrauchernaher Interessenvertreter uns als staatliche Finanzaufsicht hervorragend unterstützen und ergänzen kann.

Über die weiteren Möglichkeiten des Kleinanlegerschutzgesetzes könnte ich noch sehr viel länger referieren, doch ich möchte nur noch einige Beispiele herausgreifen: Demnächst können wir die Rechnungslegung eines Vermögensanlage-Emittenten durch einen externen Wirtschaftsprüfer prüfen lassen. Wenn wir gegen Anbieter vorgehen, die gegen das Vermögensanlagengesetz verstoßen haben, und beispielsweise Bußgelder verhängen, können wir unsere Maßnahmen auf unserer Internetseite veröffentlichen, um Anleger zu warnen. Wir werden auch den Vertrieb bestimmter Finanzprodukte beschränken oder sogar verbieten können. Mit diesen und weiteren Instrumenten stärkt uns der Gesetzgeber im Verbraucherschutz – ohne den Anleger aus der Verantwortung zu entlassen und ohne wirtschaftliche Initiative und Innovationsfreude zu ersticken. Diese doppelte Balance ist wichtig.

Sie zeigt sich auch an anderen Stellen des Gesetzes: Anstatt private Anleger vom Grauen Kapitalmarkt fernzuhalten, soll es die Angebote dort transparenter machen, etwa indem es die Prospektpflicht nach dem Vermögensanlagengesetz erweitert. Um aber die Finanzierung innovativer kleiner und mittlerer Unternehmen – beispielsweise aus der Fintech-Branche – nicht zu behindern, nimmt das Gesetz Crowdfunding in Form des Crowdinvestings unter bestimmten Voraussetzungen von der Prospektpflicht aus.

Diese Balance scheint mir an anderen Stellen in Gefahr. Ich denke dabei unter anderem an die reformierte Finanzmarktrichtlinie MiFID II, die neben sehr vielen anderen Regelungen auch solche zum Verbraucherschutz enthält. So sieht sie (in Artikel 25 Absatz 6) beispielsweise eine Erklärung zur Geeignetheit der Anlageempfehlung vor. Darin sollen Wertpapierdienstleistungsunternehmen künftig darlegen, ich zitiere, „wie die Beratung auf die Präferenzen, Ziele und sonstigen Merkmale des Kleinanlegers abgestimmt wurde.“ Außerdem soll sämtliche Kommunikation aufgezeichnet werden, die orderrelevant ist: Telefonate, E-Mails, Faxe, Vor-Ort-Gespräche etc. etc.

Die neue MiFID macht eine Reihe weiterer Vorgaben im Sinne des Anlegerschutzes – etwa zur Kostentransparenz und zur Annahme von Provisionen. Anbieter sollen auch dazu verpflichtet werden, sich schon bei der Produktentwicklung an den Interessen der Endkunden zu orientieren. Emittenten (die unter die MiFID fallen) und Vertriebsunternehmen sollen vorab definieren, auf welchem Zielmarkt ihre Finanzinstrumente vertrieben werden sollen. Zu diesen Regelungen hat die europäische Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA im Dezember vergangenen Jahres zahlreiche Details vorgeschlagen. In der Banken- und der Versicherungsregulierung werden sich in Zukunft ähnliche Vorgaben finden, und auch die geplante Novelle der europäischen Vermittlerrichtlinie greift das Thema auf.

Über die Finanzindustrie kommt derzeit eine Welle solcher Vorhaben zu. Im Kern sind sie alle sinnvoll. Doch wenn wir Anbieter mit übersteigerten administrativen Anforderungen lähmen, lähmen wir damit auch die Versorgung mit Finanzprodukten. Den Schaden hätten dann auch die Verbraucher. Ich halte vor allem nichts davon, die Regulierungstiefe maximalharmonisierender europäischer Vorhaben leichtfertig auf Vorhaben zu übertragen, die der Minimalharmonisierung dienen sollen. In der Radikal-MiFIDisierung, die wir seit geraumer Zeit beobachten, liegt kein Segen.

Meine Damen und Herren, im November 2008, die Investmentbank Lehman Brothers war kurz zuvor zusammengebrochen, setzten die G-20-Staats- und -Regierungschefs regulatorische Aufräumarbeiten von nie dagewesenem Umfang in Gang: Alle Finanzmärkte, Produkte und Marktteilnehmer sollten – ihren Umständen angemessen – reguliert werden. Was ist daraus geworden? Wesentliche Teile der Reform-Agenda der G 20 sind abgearbeitet – aber noch nicht alle. Ich will nur einige Beispiele nennen.

Die Derivatemärkte müssen (noch) sicherer werden. Wir unterstützen daher den Vorstoß des Financial Stability Boards (FSB) und anderer Standardsetzer, die Daten der Transaktionsregister über den OTC-Derivatehandel zu standardisieren und zusammenzuführen. Auch das Thema Schattenbanken ist regulatorisch noch nicht ausgeschöpft. Das FSB hat seinen Fokus nun auch auf den Asset-Management-Sektor gerichtet; dorthin sind in den vergangenen Jahren sehr viele Mittel geflossen. Wir müssen uns anschauen, ob dieser Sektor ausreichend reguliert ist. Und wir müssen prüfen, ob wir die großen Player einer verschärften oder zusätzlichen Regulierung unterziehen sollten.

Vergleichbare Fragen stellen sich bei Zentralen Gegenparteien. Weil sie eng mit den Clearing-Teilnehmern verflochten sind, werden wir auch für sie ein glaubhaftes Sanierungs- und Abwicklungsregime schaffen müssen. In der Bankenaufsicht sind wir mit der Lösung des Too-big-to-fail-Problems schon sehr viel weiter, auf globaler Ebene aber noch nicht ganz am Ziel. Was uns unter anderem noch fehlt, ist ein globales Rahmenwerk für die grenzüberschreitende Anerkennung von Abwicklungsmaßnahmen. Die Arbeiten daran werden mit Sicherheit noch einige Jahre dauern.

Es gibt neben der G-20-Agenda weitere Regulierungsvorhaben, über die ich noch referieren könnte: etwa die Arbeiten des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht am Kreditrisiko-Standardansatz. Oder die Fragen zur Nullgewichtung von Staatsanleihen, die sich spätestens seit der Staatsschuldenkrise in Europa stellen. Wir werden uns auch mit neuen Risiken befassen, etwa mit Cyberrisiken und dem Risiko aus Markt-Fehlverhalten – Stichwort Benchmark-Manipulation. Nach Ansicht des FSBs hat das Fehlverhalten in einigen Instituten ein solches Ausmaß erreicht, dass man möglicherweise von einem systemischen Risiko sprechen muss.

Nach dem Regulierungsmarathon der Nachkrisenjahre geht es nun aber auch und vor allem um eines: Die vielen bereits beschlossenen Reformen müssen nun zügig, vollständig und einheitlich umgesetzt werden. Einen Schlusspunkt werden wir aber auch dann nicht setzen können: Wir werden uns noch einmal der Frage zuwenden müssen, wie sich diese Reformen auswirken. Denn allen Trockenübungen zum Trotz zeigt sich erst in der praktischen Anwendung, wie Regulierung tatsächlich wirkt und ob es unbeabsichtigte Nebenwirkungen gibt. Auch mit der Wechselwirkung verschiedener Regelwerke müssen wir uns beschäftigen.

Meine Damen und Herren, vorhin habe ich gesagt, unsere Arbeit werde nicht weniger wichtig. Sie wird auch nicht weniger komplex, und das betrifft alle Bereiche der BaFin. Selbst ein Thema wie das Niedrigzinsniveau, das uns über Jahre begleitet, zeigt immer wieder neue Facetten, so dass es uns auch in der Zeitschleife nicht langweilig wird. Apropos: Ich möchte meine Ausführungen nun beenden und danke Ihnen dafür, dass Sie mir bis hierher aufmerksam gefolgt sind. Nun freue ich mich auf Ihre Fragen.

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