BaFin - Navigation & Service

Symbolfoto @ Bernd_Roselieb_BaFin

Erscheinung:15.03.2021 | Thema Eigenmittel „Auch wir mussten Abstriche machen“

Dr. Frank Grund, Exekutivdirektor Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht, über den Kompromiss zum Solvency-II-Review und die Herausforderungen für Aufsicht und Branche.

Die Versicherungsbranche hat nach wie vor mit der nicht enden wollenden Niedrigzinsphase zu kämpfen – vor allem Lebensversicherer und Pensionskassen. 2020 kam unvorhergesehen die Corona-Pandemie hinzu, die auch den Solvency-II-Review um ein halbes Jahr verlängert hat. BaFin-Exekutivdirektor Dr. Frank Grund blickt zurück und nach vorn.

Herr Dr. Grund, wie beurteilen Sie – sechs Wochen vor der diesjährigen Jahreskonferenz der Versicherungsaufsicht – die aktuelle Lage der Lebensversicherer?

So wie die gesamte Gesellschaft hat die Corona-Krise auch die Lebensversicherer und Pensionskassen nachhaltig berührt – nicht nur auf der Kapitalanlageseite, sondern auch im Vertrieb. Social Distancing macht ein Gespräch zwischen einem Versicherungsvertreter und einem potenziellen Kunden natürlich nicht leichter. Das Niedrigzinsumfeld – seit Jahren Herausforderung Nummer eins für Lebensversicherer und Pensionskassen – hat sich durch die Pandemie noch einmal verfestigt. In so einer Situation besteht unser Hauptziel darin, die Unternehmen als Aufsicht möglichst eng zu begleiten.

Wie hat die BaFin das im Corona-Jahr 2020 gemacht?

Der präventive Aspekt unserer laufenden Aufsicht hat bei uns einen besonderen Stellenwert. Im vergangenen Jahr haben wir die Verantwortlichen Aktuare der Lebensversicherer und die Inhaber der Versicherungsmathematischen Funktion nachdrücklich darauf hingewiesen, dass sie die Zinsgarantien im Neugeschäft kritisch hinterfragen und gegebenenfalls absenken müssen. Im Juli 2020 haben wir der Branche in einem Sammelschreiben dazu Hinweise gegeben. Der wichtigste: Der Höchstrechnungszins darf nicht unreflektiert als Garantiezins ins Neugeschäft übernommen werden.

Bei regulierten Pensionskassen gab es sogar noch offene Tarife mit einem Garantiezins oberhalb von 0,9 Prozent, also noch über dem derzeitigen Höchstrechnungszins. Diese Anbieter haben wir aufgefordert, die Zinsgarantien im Neugeschäft zu senken. Und das hat bei fast allen Pensionskassen auch gut geklappt. Nur in wenigen Sonderfällen stehen Entscheidungen der beteiligten Tarifparteien noch aus.

Was sind die wichtigsten Ergebnisse der BaFin-Prognoserechnung mit Stichtag 30. September 2020?

Die Auswertung läuft noch. Es zeigt sich aber schon, dass die Lebensversicherer robust genug sind, um ihre bestehenden Verpflichtungen auch in Zukunft zu erfüllen – wenn man das Handelsgesetzbuch zugrunde legt. Nach dem, was wir jetzt schon wissen, dürfte es den Unternehmen aber künftig schwerer fallen, die Zinszusatzreserve weiter aufzubauen. Sie ist 2020 um gut 10 Milliarden Euro auf knapp 86 Milliarden Euro gewachsen, und bis 2024 werden die Unternehmen weitere 33 Milliarden Euro dafür aufwenden müssen. Zur Solvency-II-Erhebung, die uns Aufschluss über die Fähigkeit geben soll, auch in Zukunft Neugeschäft zu schreiben, kann ich derzeit noch nichts sagen.

Die Pensionskassen sind unverändert stark von den niedrigen Zinsen betroffen, das geht aus unserer aktuellen Prognoserechnung hervor. Erfreulich ist aber, dass viele Pensionskassen von ihren Trägerunternehmen oder Aktionären finanziell unterstützt werden.

Ende vergangenen Jahres hat die Europäische Versicherungsaufsicht EIOPA ihre Stellungnahme zum Solvency-II-Review vorgelegt. Was bedeuten die Empfehlungen für deutsche Lebensversicherer?

Der Vorschlag von EIOPA ist ein Kompromiss. Auch wir mussten Abstriche machen. Als Gesamtpaket finde ich ihn aber einigermaßen akzeptabel. Solvency II würde durch den Vorschlag zwar noch marktorientierter. Aber langfristiges Geschäft, wie es auch für Lebensversicherer typisch ist, bliebe weiterhin möglich. Das war uns wichtig. Dennoch: Wenn die Zinsen so niedrig bleiben, würden auf die deutschen Lebensversicherer Belastungen zukommen.

Sie beziehen sich auf die Änderungsvorschläge zur Extrapolation der Zinsstrukturkurve.

Genau, sie würden bei den deutschen Lebensversicherern mit ihren sehr langen Vertragslaufzeiten zu deutlich höheren Kapitalanforderungen führen.

Der Hintergrund ist folgender: Bei der alternativen Extrapolationsmethode sollen auch Zinsinformationen berücksichtigt werden, die sich auf einen Zeitpunkt nach Ablauf von 20 Jahren beziehen. Bleiben die Zinsen auf dem Niveau, das wir gerade haben, wird die Zinsstrukturkurve im extrapolierten Bereich tendenziell niedriger sein.1 EIOPA schlägt zwar einen Ausgleichmechanismus vor, der dafür sorgen soll, dass die Höhe der Rückstellungen in schwierigen Marktsituationen verkraftbar bleibt. Der wäre aber zeitlich begrenzt. Ich erwarte daher, dass man noch über Anpassungen diskutieren wird.

Für eine gute Entscheidung halte ich die Vorschläge zur neuen Ausgestaltung der Volatilitätsanpassung. Dieses Instrument hat sich 2020 ja in einer wirklichen, nämlich coronabedingten, Stress-Situation bewährt. Als die Pandemie ausbrach, gingen die Märkte in den Keller. In ihrer neuen Ausgestaltung würde die Volatilitätsanpassung noch stärker und passgenauer wirken. Das würde die Solvenzkapitalergebnisse in unruhigen Zeiten weiter stabilisieren. Dass künftig auch die Illiquidität von Verpflichtungen berücksichtigt werden soll, macht es darüber hinaus möglich, langfristiges Versicherungsgeschäft besser unter Solvency II abzubilden

Die BaFin hat 2020 schwerpunktmäßig die versicherungstechnischen Rückstellungen der Lebensversicherer geprüft. Mit welchen Ergebnissen?

Wegen der Corona-Pandemie waren wir leider nicht so oft vor Ort, wie wir uns das gewünscht hätten. Trotzdem haben wir bei einzelnen Lebensversicherern, die die Standardformel nach Solvency II anwenden, stochastische Bewertungsmodelle geprüft.

Beim BSM, dem Branchensimulationsmodell, sind uns 2020 ein paar Schwächen aufgefallen. Das BSM bildet bestimmte Versicherungstarife nicht gut ab, zum Beispiel dynamische Hybridversicherungen. Leider zeigt sich bei den Kapitalanlagen ein ähnliches Problem, und das sowohl bei speziellen Kapitalanlagen wie etwa derivativen Produkten als auch bei renditeorientierten Kapitalanlagen mit hohem Risikoprofil. Im Extremfall führte das dazu, dass sich das BSM nicht mehr dafür eignete, die versicherungstechnischen Rückstellungen zu bewerten. In vielen Fällen hatten Unternehmen die zugrundeliegenden Annahmen oder die künftigen Maßnahmen des Managements nicht ausreichend validiert. Oder sie hatten sich zu wenig mit den Schwächen der Programme und Daten auseinandergesetzt. Die werden extern zur Verfügung gestellt. Das alles muss besser werden.

Sieht es denn bei den Schadenrückstellungen der Schaden- und Unfallversicherer besser aus?

Auch hier gibt es Verbesserungsbedarf. Vor allem bei der Datenqualität und der Datenvalidierung, aber auch bei der Angemessenheit, Vollständigkeit und Exaktheit der Daten, die in die Berechnung einfließen. Wenn Versicherer externe Daten verwenden oder mehrere IT-Systeme im Einsatz sind, wird die Berechnung auch nicht leichter. Aus unserer Sicht sind zudem der Validierungsumfang und die Validierungsmethoden teilweise unzureichend. Und bei der Bewertung und Berechnung des Besten Schätzwerts2 lag bei einigen Versicherern die Dokumentation im Argen.

Für die versicherungstechnischen Rückstellungen und die Schadenrückstellungen gilt gleichermaßen: Wir wollen die ausgefallenen Prüfungen im Jahr 2021 möglichst nachholen.,

Welche weiteren Aufsichtsschwerpunkte übernehmen Sie aus dem vergangenen Jahr ins laufende?

Die wenigsten Herausforderungen enden einfach so am Jahresende. Die niedrigen Zinsen sind ein gutes Beispiel, das Corona-Virus ebenso. Wir erwarten, dass sich die Pandemie 2021 deutlicher auf die Kapitalanlagen auswirken wird als 2020. Es besteht das Risiko, dass sich die Ratings und die Qualität von Unternehmensdarlehen verschlechtern, nachdem Ratingherabstufungen 2020 kein großes Thema waren.

Außerdem könnte es zu einem Preisverfall bei Gewerbeimmobilien kommen. 2020 hat zwar ein signifikanter Teil der Unternehmen marktwertbedingte Wertreduzierungen nach Solvency II auf direkt gehaltene Gewerbeimmobilien vorgenommen. Das Immobilien-Exposure war unter dem Strich aber ein überschaubares Risiko für die Kapitalausstattung der Unternehmen. Das haben unsere Analysen eindeutig gezeigt. Wir werden aufmerksam beobachten, wie sich die Dinge entwickeln.

Auch die IT- und Cybersicherheit der Versicherungsunternehmen und Pensionsfonds war und bleibt ein wichtiges Thema

Da haben Sie völlig Recht. Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung der Arbeitsabläufe forciert. Das hat noch einmal gezeigt, wie wichtig IT- und Cybersicherheit in den Unternehmen sind. Wegen der Kontaktbeschränkungen mussten wir viele unserer Prüfungen zur Umsetzung der VAIT verschieben, also der Versicherungsaufsichtlichen Anforderungen an die IT. Für Unternehmen, die wir noch nicht geprüft haben, heißt das: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Von 16 Unternehmen, die wir seit Erscheinen der VAIT im Sommer 2018 geprüft haben, erwarten wir, dass sie uns Maßnahmenpläne vorlegen, aus denen hervorgeht, wie sie die festgestellten Mängel beheben und IT-Sicherheitslücken schließen wollen.

Wir werden uns 2021 sehr genau ansehen, inwieweit die Versicherer ihre digitalen Transformationsprozesse finanzieren und umsetzen können. Dazu werden wir einen Fragebogen an schätzungsweise rund 45 Versicherer aller Sparten versenden. Es geht uns darum, die Höhe des voraussichtlichen Investitionsvolumens, die Finanzierungsquellen und das Zeitfenster für die Umsetzung von Digitalisierungsprojekten zu erfahren

Noch einmal zurück zur VA-Jahreskonferenz: Dort stehen auch die Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung, die EbAV, im Fokus – ebenfalls Aufsichtsschwerpunkt im vergangenen Jahr. Was haben Sie herausgefunden?

Wir haben kurz vor dem Jahreswechsel endlich die langersehnten „MaGo für EbAV“ und das Rundschreiben „ERB“ veröffentlicht, also die Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation und an die eigene Risikobeurteilung von EbAV. Beide sind als Hilfe gedacht: Wenn es darum geht, wie EbAV den Proportionalitätsgrundsatz anwenden, die Schlüsselfunktionen verteilen oder Tätigkeiten ausgliedern können, hilft ein Blick in die „MaGo EbAV“. Geht es um die gesetzlich vorgeschriebene eigene Risikobeurteilung, empfehle ich, vorab das ERB-Rundschreiben zu Rate zu ziehen. Die Frage, wie es dann tatsächlich um die Qualität der ERB-Berichte bestellt ist und welche weiteren Maßnahmen daraus abzuleiten sind, wird uns als Schwerpunktthema im laufenden Jahr beschäftigen.

Sie haben aber auch die aktuellen Entwicklungen im Verbraucherschutz auf die Agenda gesetzt. Was ist Ihnen hier wichtig?

Hier beschäftigen wir uns derzeit mit der Höhe der Provisionen. Es gibt in Deutschland bereits eine Bestimmung im Versicherungsaufsichtsgesetz, die besagt, dass Provisionen nicht mit der Pflicht eines Beraters kollidieren dürfen, im bestmöglichen Interesse des Kunden zu handeln. Das nehmen wir sehr ernst. Bereits 2017 haben wir Zahlungen an Versicherungsvermittler für das Neugeschäft erhoben. Im Jahr 2019 haben wir die Abfrage zu den Provisionszahlungen unter Lebensversicherern aktualisiert. Daran knüpfen wir 2021 an, indem wir zum Beispiel unsere Prüfung diesbezüglich vertiefen

Zum Schluss ein anderes aktuelles Thema: In seiner Januar-Ausgabe hat das BaFinJournal darüber berichtet, dass Insurtechs künftig von Anfang an ausfinanziert sein müssen. Können Sie den Widerstand der Branche dagegen nachvollziehen?

Natürlich kann ich nachvollziehen, dass die Insurtechs das nicht feiern. Unser Auftrag ist aber der Schutz der Versicherten. Es kann nicht sein, dass ein Versicherungsunternehmen dauerhaft darauf baut, benötigtes Kapital in Finanzierungsrunden einsammeln zu können. Daher achten wir auch bei den Insurtechs auf solide Businesspläne und einen ausreichend gefüllten Organisationsfonds. Bislang haben wir sechs Insurtechs zugelassen. Nicht alle Businesspläne haben im wirklichen Leben so funktioniert wie gewünscht. Die Kosten- und Schadenerwartungen sowie die Beitragseinnahmen wurden oft zu optimistisch eingeschätzt. Der nachhaltige Kapitalbedarf war hingegen deutlich höher. Übrigens hat die BaFin sich keine neuen Kapitalanforderungen gestrickt, sondern bereits bestehende Regeln verdeutlicht.

Aber lassen Sie mich sagen: An einem Dialog mit neuen Marktteilnehmern sind wir sehr interessiert – gerade, wenn es um wirkliche Innovationen geht. Entsprechende Gespräche haben auch bereits stattgefunden. Und neuen Anträgen gegenüber sind wir durchaus aufgeschlossen.

Herr Dr. Grund, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Fußnoten:

  1. 1 Die Extrapolation der risikofreien Zinsstrukturkurve macht es möglich, Rückstellungen für Versicherungsverträge zu bilden, deren Laufzeiten weiter in die Zukunft reichen als zuverlässige Kapitalmarktinformationen über risikofreie Zinsen. Also wird von sicheren Zinsinformationen auf unsichere Zinsen der Zukunft geschlossen. Extrapoliert wird derzeit für den Zeitraum nach Ablauf von 20 Jahren.
  2. 2 Der Beste Schätzwert (Best Estimate) ist die Summe aller unter realistischen Annahmen geschätzten zukünftigen wahrscheinlichkeitsgewichteten und diskontierten Zahlungsströme, denen das Versicherungsunternehmen ausgesetzt ist. In der Nicht-Lebensversicherung etwa besteht der Beste Schätzwert aus einer Prämien- und einer Schadenrückstellung.

Hinweis

Der Beitrag gibt den Sachstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im BaFinJournal wieder und wird nicht nachträglich aktualisiert. Bitte beachten Sie die Allgemeinen Nutzungsbedingungen.

Zusatzinformationen

BaFinJournal 03/2021 (Download)

Fanden Sie den Beitrag hilfreich?

Wir freuen uns über Ihr Feedback

Es hilft uns, die Webseite kontinuierlich zu verbessern und aktuell zu halten. Bei Fragen, für deren Beantwortung wir Sie kontaktieren sollen, nutzen Sie bitte unser Kontaktformular. Hinweise auf tatsächliche oder mögliche Verstöße gegen aufsichtsrechtliche Vorschriften richten Sie bitte an unsere Hinweisgeberstelle.

Wir freuen uns über Ihr Feedback