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Erscheinung:15.07.2020 Wie Versicherer sich richtig stressen

Die BaFin hat die Berichte zur unternehmenseigenen Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung (ORSA) analysiert. Ergebnis: Die Stresstests müssen differenzierter werden, die Analysen der Ergebnisse tiefer gehen.

Versicherungsunternehmen müssen sich stets der Risiken bewusst sein, denen sie ausgesetzt sind. Der Bericht zur unternehmenseigenen Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung (Own Risk and Solvency AssessmentORSA) bündelt die dafür benötigten Erkenntnisse (siehe Infokasten "ORSA"). Ein wichtiges Element sind Stresstests, insbesondere auch um Situationen wie die aktuelle Corona-Krise zu bewerten. Die BaFin hat stichprobenartig ORSA-Berichte durchgesehen und festgestellt, dass sie häufig nicht in angemessener Weise die Anforderungen an unternehmensindividuelle Stresstests erfüllen. Worin bestehen diese Anforderungen?

Definition:ORSA: Bericht zur unternehmenseigenen Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung

Seit 2016 verpflichtet das europäische Aufsichtsregime Solvency II Versicherungsunternehmen dazu, in regelmäßigen Abständen und bei wesentlichen Änderungen ihres Risikoprofils eine unternehmenseigene Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung (Own Risk and Solvency AssessmentORSA) durchzuführen. Die Ergebnisse müssen der Geschäftsleitung vorgelegt werden. Daher ist der ORSA in erster Linie ein Analyse-, Steuerungs- und Berichtsinstrument des Unternehmens. Er dient der gesamten Geschäftsleitung als Grundlage strategischer Maßnahmen und soll sicherstellen, dass der Versicherer jederzeit die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an die Eigenmittel und die versicherungstechnischen Rückstellungen erfüllt.

Essentiell für den ORSA als Teil des Risikomanagements sind die unternehmensindividuellen Stresstests gemäß Abschnitt 10.3 Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von Versicherungsunternehmen (MaGo).

Anforderungen an den ORSA

Wenn die Unternehmen ihren tatsächlichen Gesamtsolvabilitätsbedarf ermitteln, müssen sie alle Entwicklungen einbeziehen, die sich wesentlich auf ihre Risikolage oder ihre Eigenmittelsituation auswirken können – beispielsweise geplante strategische Maßnahmen sowie mögliche widrige Ereignisse und Szenarien. Um die für das Versicherungsunternehmen bzw. die Versicherungsgruppe relevanten widrigen Ereignisse oder Szenarien angemessen im ORSA abzubilden, müssen sie ein ausreichend breites Spektrum an Stresstests entwickeln, die sie an ihrem unternehmensindividuellen Risikoprofil auszurichten haben. Zumindest müssen sie die maßgeblichen Treiber für die wesentlichen Risiken des Unternehmens abdecken, die Risikokonzentrationen und die Diversifikationseffekte zwischen den Risiken berücksichtigen und unterschiedliche Schweregrade der Ereignisse und Szenarien abbilden (Abschnitt 10.3 Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von Versicherungsunternehmen – MaGo). Zudem erwartet die BaFin, dass die Unternehmen Erkenntnisse aus früheren Stresstests heranziehen, wenn sie beurteilen, ob sich das Risikoprofil wesentlich geändert hat.1 Dabei können verschiedene Arten von Stresstests mit unterschiedlichsten Schweregraden und Szenarien zum Einsatz kommen, wie Sensitivitätsanalysen, Szenarioanalysen und Reverse-Stresstests.

Die Unternehmen sind verpflichtet, die Häufigkeit und den Inhalt der Stresstests zu dokumentieren. Die Leitlinien zum Governance-System der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung EIOPA sehen unter Punkt 1.53e zudem vor, dass die Versicherer jene Situationen festlegen, die Ad-hoc-Stresstests erfordern. Außerdem müssen die Versicherer alle Risiken identifizieren und beurteilen, denen sie kurz- und langfristig ausgesetzt sind. Dazu gehören laut § 27 Absatz 3 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) und Artikel 262 Absatz 1 Buchstabe a der Solvency-II-Durchführungsverordnung (DVO) auch solche Risiken, die beispielsweise daraus resultieren, dass sich das wirtschaftliche und finanzielle Umfeld ändert.

Obwohl die Versicherer unter Solvency II einen ORSA erstellen müssen, ist, was Art, Umfang und Häufigkeit angeht, durchaus das Proportionalitätsprinzip anwendbar (siehe Infokasten „Berücksichtigung von Proportionalität im ORSA“).

Erwartungen der Aufsicht

Inwiefern die Versicherungsgesellschaften die vorgenannten Anforderungen tatsächlich umgesetzt haben, konnten die Prüfer der BaFin bei der Lektüre der ORSA-Berichte oft nur schwer nachvollziehen. Den Berichten konnten die Aufseher beispielsweise häufig nicht entnehmen, nach welchen Kriterien die Versicherer ihre Stresstests im Hinblick auf die jeweiligen Risiken ausgewählt haben.

Mindestens einmal pro Jahr müssen die Unternehmen die Angemessenheit der Stresstests bewerten und im ORSA begründen. Sollten sich die gewählten Ereignisse oder Szenarien als unrealistisch herausstellen, müssen die Versicherer ihre Stresstests anpassen. Gerade in turbulenten Zeiten wie der aktuellen Corona-Krise erwartet die BaFin von den Unternehmen, dass sie die Stresstestannahmen gründlich prüfen. Eine Aussage, die Stresstests seien unverändert angemessen, müssen Versicherer auf jeden Fall begründen – bisher erfolgt das erfahrungsgemäß oft nicht oder nur rudimentär. Bei Szenariobetrachtungen verlangt die BaFin von den Unternehmen, dass sie analysieren, inwieweit Risiken unterschiedlicher Kategorien korrelieren und es deshalb risikotechnisch sinnvoll ist, diese Risiken gemeinsam zu untersuchen.

Komplexe Zusammenhänge

In ihren ORSA-Berichten betrachten die Versicherer sehr häufig Stresse für einzelne Risikofaktoren wie Aktien, Spreads und Zinskurven, selten jedoch Kombinationen von Markt- und versicherungstechnischen Risiken sowie Nachhaltigkeitsstresse. Weiterhin fällt auf, dass die ORSA-Berichte nur vereinzelt Reverse-Stresstests enthalten, obwohl diese transparent machen können, wann definierte strategische Ziele nicht eingehalten würden. Bei einem Reverse-Stresstest können die Unternehmen zum Beispiel den Ausfall von Gegenparteien, Kapitalmarktverwerfungen und Anstiege der Schaden-Kosten-Quote analysieren.

Im Hinblick auf die Analyse der Stresstestergebnisse und die Frage, wie sie sich auf die Unternehmenssteuerung auswirken, erwartet die BaFin von den Unternehmen, dass sie sich zur Angemessenheit der betrachteten Kenngrößen äußern. Wenn sie zum Beispiel die Eigenmittel oder die Solvabilitätskapitalanforderung (SCR) betrachten, müssen die Versicherer erläutern, welche Rolle dabei die Komplexität des Szenarios oder die Zahl der einbezogenen Risiken gespielt haben.

Weiterhin sollen die Versicherer Stresstests mit unterschiedlichen Schweregraden durchführen (Rn. 199 MaGo). Der Schweregrad lässt sich etwa über Stressparameter und das Änderungsausmaß der betrachteten Zielgrößen festlegen. Ergebnis der Durchsicht: Bei weitem nicht alle Versicherer differenzieren die Stresstests in ihren ORSA-Berichten nach Schweregraden.

Beurteilung der Ergebnisse

Zudem beobachteten die Prüfer, dass zahlreiche Stresstests Ergebnisse hervorbringen, die sich gar nicht materiell auf die Zielgrößen auswirken. Oft beurteilen die Unternehmen ihre Stresstestergebnisse überhaupt nicht. Allgemeine Aussagen wie „die Risikotragfähigkeit ist weiterhin gegeben“ und „keine materiellen Auswirkungen“ sind häufig nicht angemessen. Denn die BaFin erwartet eine ausführliche Beurteilung wesentlicher Stresstestauswirkungen, bei der die Unternehmen auch ergriffene bzw. potenzielle Maßnahmen erörtern, mit denen sie ihre Situation verbessern wollen. Das sollten sie im Kontext von COVID-19 nachhaltig beachten. Gemäß MaGo sind im ORSA jedenfalls dann mögliche Maßnahmen zu nennen, wenn ein Versicherungsunternehmen für ein plausibles Szenario feststellt, dass es ggf. die SCR-Bedeckungsquote nicht wird einhalten können. Der Versicherer muss dann etwa überlegen, ob er die Prämien anpassen, den Rückversicherungsschutz verändern oder Instrumente zur Kapitalentlastung beantragen kann.

Die BaFin stieß auch auf positive Beispiele, wie Versicherer ihre Stresstestergebnisse beurteilt haben. Wenn Unternehmen etwa Wirkungsketten erläutern und genauer untersuchen, wie sich der Stresseffekt auf Teilgrößen darstellt, indem sie die Eigenmittel und das SCR separat betrachten, anstatt nur die Bedeckungsquote, sind die Erkenntnisse ungleich größer.

Die BaFin begrüßt es, wenn die Unternehmen über einen bestandenen Stresstest mit stabiler SCR-Bedeckung hinausschauen, beispielsweise im Rahmen weiterführender Was-wäre-wenn-Betrachtungen, die weitere mögliche adverse Entwicklungen und potenzielle Auswirkungen umfassen.

Fazit

Die Durchsicht hat gezeigt: Der ORSA kann die Geschäftsleiter nur dann dabei unterstützen, fundierte Entscheidungen zu treffen, wenn er die den Stresstests zugrundeliegenden Annahmen und Methoden, deren Ergebnisse sowie die daraus resultierenden Schlussfolgerungen und Maßnahmen im gebotenen Umfang darstellt. Auch die Aufsicht muss sich auf Basis dieser Angaben ein eigenes Urteil zur Angemessenheit des unternehmerischen Vorgehens bilden können. Aus aktuellem Anlass wird die BaFin im Blick behalten, ob COVID-19 zu vermehrten Ad-hoc-ORSA-Berichten mit angepassten Stressannahmen führen wird.

Auf einen Blick:ORSA: Bericht zur unternehmenseigenen Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung

Nach dem Proportionalitätsprinzip aus § 296 Absatz 1Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) können Unternehmen eine bestimmte Anforderung auf eine Weise erfüllen, die der Wesensart, dem Umfang und der Komplexität der mit ihrer Tätigkeit einhergehenden Risiken entspricht. Was das für die unternehmensindividuellen ORSA-Stresstests bedeuten kann, zeigen vier Beispiele:

  • Beispiel 1: Erst bei Unterschreiten eines bestimmten Schwellenwerts der Bedeckungsquote der relevanten Kapitalanforderung führt das Unternehmen einen Reverse-Stresstest im ORSA durch.
    Hier orientiert sich die Art des Stresstests am Risikoprofil des Unternehmens. Versicherer mit einem schwächer ausgeprägten Risikoprofil können sich in der Regel auf einfache Sensitivitätsanalysen beschränken und müssen nicht zwingend Szenarioanalysen oder Reverse-Stresstests durchführen.
  • Beispiel 2: Sofern mindestens die wesentlichen unternehmensindividuellen Risikotreiber abgedeckt sind, kann bereits eine verhältnismäßig geringe Zahl an Stresstests die aufsichtlichen Anforderungen erfüllen.
  • Beispiel 3: Wenn Versicherer die Post-Stress-Kapitalanforderung und die Post-Stress-Eigenmittel berechnen, können sie Vereinfachungen anwenden, über die sie im ORSA dann allerdings detailliert berichten müssen.

    Beide Beispiele zum Umfang zeigen: Proportionalität spiegelt sich in der Zahl der Stresstests, den Betrachtungszeiträumen sowie in der Detailtiefe der Analysen wider.

  • Beispiel 4: Sofern sich eine einzelne Risikosituation für ein Unternehmen nicht verändert, muss es den Stresstest nicht zwingend erneut durchführen. Im ORSA müsste es den Stresstest sowie die zugehörigen Annahmen und Methoden jedoch weiterhin aufführen. Die Pflicht, bei wesentlichen Änderungen ORSA-Stresstests jährlich oder auch ad hoc durchzuführen, bleibt hiervon unberührt.

    Das zeigt: Die Häufigkeit unternehmensindividueller Stresstests orientiert sich am Risikoprofil.

Vor diesem Hintergrund erwartet die BaFin insgesamt von Unternehmen mit einem schwächer ausgeprägten Risikoprofil, dass sie die Mindestanforderungen gemäß Abschnitt 10.3 MaGo an einen unternehmensindividuellen Stresstest im ORSA einhalten.

Autoren

Ludger Hanenberg
BaFin-Abteilung Übergreifende Grundsatzthemen, Steuerung, Service

Roland Limp
BaFin-Referat Aufsichtsprozess, Aufsichtssteuerung, Finanzstabilität, Analysen

Fußnote:

  1. 1 vgl. u.a. Rn. 2.64 ErlT zu LL. 14 EIOPA-BoS-14/259.

Hinweis

Der Beitrag gibt den Sachstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im BaFinJournal wieder und wird nicht nachträglich aktualisiert. Bitte beachten Sie die Allgemeinen Nutzungsbedingungen.

Zusatzinformationen

BaFinJournal 05/2020 (Download)

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