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Die Abbildung zeigt auf dem Meer treibende, kontinental geformte Eisschollen. © istockphoto.com/Petmal

Erscheinung:15.10.2019 | Thema Nachhaltigkeit Wie messen Versicherer Klimarisiken?

Spezielle Stresstests zeigen Versicherern, wie sich der Klimawandel auf ihre Kapitalanlagen auswirkt.

Kaum eine Branche beschäftigt sich so intensiv mit den Risiken des Klimawandels wie die Versicherungswirtschaft. Und das aus gutem Grund: Die finanziellen Risiken des Klimawandels können bei Versicherern sowohl die Passiv- wie auch die Aktivseite der Bilanz massiv belasten.

Wenn sich Versicherer über Klimarisiken Gedanken machten, war es für sie im vergangenen Jahrhundert meist noch ausreichend, die Eintrittswahrscheinlichkeiten und Schadenhöhen von Erdbeben, Stürmen, Flächenbränden, Überschwemmungen, Fluten und Dürren zu kalkulieren und in den Versicherungspolicen abzubilden. Physische Risiken (siehe Infokasten „Risikoarten im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit“) manifestierten sich in umweltbedingten Schäden etwa an den Häusern von Versicherten, die das Versicherungsunternehmen bezahlte. Das stresste dessen Passivseite und ist natürlich bis heute so.

Definition:Risikoarten im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit

Als physische Risiken gelten sowohl einzelne Extremwetterereignisse und deren Folgen (Hitze- und Trockenperioden, Überflutungen, Stürme, Hagel, Waldbrände, Lawinen) als auch langfristige Veränderungen klimatischer und ökologischer Bedingungen (Niederschlagshäufigkeit/-mengen, Wetterunbeständigkeit, Meeresspiegelanstieg, Veränderung von Meeres- und Luftströmungen, Übersäuerung und Vermüllung der Ozeane, Anstieg der Durchschnittstemperaturen mit regionalen Extremen). Physische Risiken können auch indirekte Folgen haben, etwa den Zusammenbruch von Lieferketten, die Aufgabe wasserintensiver Geschäftstätigkeiten, klimabedingte Migration und bewaffnete Konflikte.

Transitionsrisiken gehen mit der Umstellung auf eine kohlenstoffarme Wirtschaft einher. Politische Maßnahmen können dazu führen, dass sich fossile Energieträger verteuern oder verknappen. Außerdem besteht für die Träger und Geldgeber bekannter Technologien das Risiko, dass sich neue Technologien durchsetzen, weil diese bei den Kunden besser ankommen, gesellschaftlich eher akzeptiert sind und die neuen Firmen keine Verantwortung für die Folgen von Umweltschäden tragen, wohingegen nicht angepasste Unternehmen von Gerichten zu Schadenersatz verurteilt oder vom Staat dazu gezwungen werden könnten, etwa die Atommüllendlagerung zu finanzieren.

Hinzugetreten ist ein starker Fokus auf die Kapitalanlagen von Versicherern, die in der Bilanz auf der Aktivseite stehen. Das steigende Interesse liegt auch daran, dass die Versicherungsgesellschaften ihre Anlageportfolios zunehmend an Umwelt-, sozialen und Unternehmensführungskriterien (Environmental, Social and GovernanceESG) ausrichten (siehe BaFinPerspektiven 2/2019). Auch die Kapitalanlagen sind vor physischen Risiken nicht gefeit. Das veranschaulicht wiederum das Immobilien-Beispiel: Sollte Hochwasser die Immobilienanlage eines Versicherers beschädigen, könnte das dessen Einnahmen aus der Vermietung beeinträchtigen – ganz abgesehen von den Abschreibungen auf seinen Immobilienbesitz. Außerdem wäre es möglich, dass es nicht seine Grundstücke erwischt, sondern jene eines Immobilienkonzerns, dessen Aktien der Versicherer hält.

Anders als physische Risiken wirken transitorische Risiken nicht auf die Substanz einer Sache ein, sondern würden sich im Falle von Immobilien etwa daran zeigen, dass der Wert eines Gebäudes sinkt oder dass es nicht mehr versicherbar ist. Transitorische Risiken können insbesondere dann eine Gefahr darstellen, wenn sie nicht einbezogen bzw. eingepreist werden. Die daraus resultierende Unter- bzw. Überbewertung von Finanztiteln führt zu einer ineffizienten Kapitalallokation.

Auf einen Blick:Task Force on Climate-Related Financial Disclosures

Der Finanzstabilitätsrat (Financial Stability BoardFSB) hat die Task Force on Climate-Related Financial Disclosures (TCFD) 2015 eingerichtet, damit sie für Finanzunternehmen Standards für die freiwillige, konsistente klimabezogene Offenlegung von finanziellen Risiken entwickelt.

Um den negativen Folgen einer unpassenden Preissetzung entgegenzuwirken und Umweltrisiken zu quantifizieren, rät die Task-Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD) Finanzunternehmen dazu, ihre Klimarisiken mit Stresstests und Szenarioanalysen zu bewerten und transparent zu machen (siehe Infokasten „Klimastresstest“. Inzwischen unterstützen fast 800 internationale Industrieunternehmen, Finanzinstitute und Organisationen die im Juni 2017 veröffentlichten TCFD-Empfehlungen, darunter auch die BaFin. Sie beschäftigt sich intensiv mit den Methoden, die Unternehmen offenstehen, um physische und transitorische Risiken in der Kapitalanlage zu quantifizieren.

Klimastresstests bei Versicherern

Klimastresstests dienen dazu, dass Unternehmen ihre umweltbezogenen Risiken besser identifizieren, bewerten, überwachen, steuern und kontrollieren können. Sie sind noch nicht flächendeckend verbreitet. Von den Erst- und Rückversicherungsunternehmen in Deutschland sowie den Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (EbAV), die unter der Aufsicht der BaFin stehen, wenden etwa sechs Prozent Klimastresstests im Kapitalanlage-Risikomanagement an, wie eine Branchenabfrage im vergangenen Jahr ergab (siehe BaFinJournal Juli 2018).

Für die risikobewusste Branche ist es wichtig, abschätzen zu können, welchen Nachhaltigkeitsrisiken ihre Kapitalanlagen ausgesetzt sind. In den vergangenen Jahren haben die Unternehmen ESG-Kriterien zunehmend in ihre Geschäftsorganisation integriert und – als Teil davon – nach Methoden gesucht, die es ihnen ermöglichen, umweltbezogene Risiken zu messen. Dazu gehören Klimastresstests.

Definition:Klimastresstest

Mit Klimastresstests messen Versicherer Nachhaltigkeitsrisiken. Die Widerstandsfähigkeit des Unternehmens gegen widrige Ereignisse kommt auf den Prüfstand, indem physische bzw. transitorische Risiken in Sensitivitätsanalysen einzelne Einflussgrößen oder – in Szenarien – mehrere Einflussgrößen simultan verändern. Mit Hilfe solcher Szenarioanalysen identifizieren und bewerten Unternehmen die potenziellen Ergebnisse von möglichen zukünftigen Ereignissen. Szenarioanalysen zeigen auf, wie sich physische und transitorische Risiken auf das Unternehmen, seine Strategie und seine finanzielle Performance über einen langen Zeitraum auswirken, und sie fördern das Verständnis für die Wirkung des Klimawandels.

Da die Unternehmen selbst für ihr Risikomanagement verantwortlich sind, stehen sie in der Pflicht zu prüfen, ob unternehmensspezifische Stresstests die wesentlichen Nachhaltigkeitsrisiken in geeigneter Weise abbilden. Sie müssen Methoden und Instrumente eigenständig weiterentwickeln, damit diese die Nachhaltigkeitsrisiken dauerhaft abbilden (siehe BaFinJournal Mai 2018). Viele Versicherer wenden Analyseinstrumente externer Anbieter an oder kombinieren eigene mit externen Instrumenten. Auf dem Markt für ESG-Analysen bewegen sich indes nicht nur kommerzielle Anbieter, sondern auch Nichtregierungsorganisationen, wissenschaftliche Einrichtungen und Behörden.

Relevanz der Annahmen

Ein Stresstest ist eine spezifische Angelegenheit, bei der das Unternehmen individuelle Entscheidungen trifft. Neben der Wahl der jeweiligen Methode ist vor allem die Wahl der zugrundeliegenden Annahmen relevant. Zu diesen Annahmen gehört zum Beispiel der Zeithorizont des Stresstests. Auch die Datengrundlage, die Szenarienauswahl und die Identifizierung relevanter Risikotreiber beeinflussen das Ergebnis entscheidend. Die Annahmen spiegeln das Risikoprofil des Unternehmens und die Entscheidung wider, welchen Risiken man sich virtuell stellen will. Das Unternehmen ist dabei nicht sonderlich eingeschränkt und kann mehrere alternative Szenarien betrachten, basierend auf verschiedenen Kombinationen von Annahmen. Entsprechend erhält es auch mehrere unterschiedliche quantitative Ergebnisse, die es qualitativ interpretieren muss, um Handlungsempfehlungen ableiten zu können.

Erfahrungen von Unternehmen

Angesichts der steigenden Bedeutung von Klimastresstests und Szenarioanalysen hat die BaFin Versicherungsunternehmen und EbAV kontaktiert und in Aufsichtsgesprächen vor Ort einen Eindruck gewonnen, welche Bedeutung Stresstests und Szenarioanalysen in der Kapitalanlage von Versicherern haben. Mitunter berichteten Mitarbeiter von Unternehmen, die sich mit Klimastresstests bereits beschäftigen, von einem generell positiven Zusammenhang zwischen Nachhaltigkeit und langfristiger Rendite. Dem stehen jedoch die hohen Kosten der ESG-Integration entgegen, etwa durch Nutzung externer Daten. Die Branche betrachtet auch die fehlende Einheitlichkeit der Nachhaltigkeitsanalyse als Problem: Weil es bisher keine regulatorischen Vorschriften gibt, kommen die verschiedenen Anbieter mit ihren Methoden und Ansätzen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Gleiches gilt für die Ansätze, welche die Unternehmen selbst entwickelt haben.

Die BaFin hat festgestellt, dass die Versicherer sich nicht nur intensiv mit Nachhaltigkeit im Allgemeinen, sondern auch mit der Klimarisikomessung im Speziellen auseinandersetzen. Da das Thema komplex ist und die Unternehmen voneinander abweichende Annahmen treffen, unterscheiden sie sich auch im Erfahrungsgrad. Die BaFin wird sich weiterhin mit Klimastresstests auseinandersetzen und den Dialog mit der Branche fortführen. Ihr Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken behandelt Stresstests in einem eigenen Kapitel. Es wird derzeit konsultiert (siehe Meldung „Nachhaltigkeitsrisiken“).

Autor

Dr. Hung Lai
BaFin-Grundsatzreferat für Kapitalanlagen von Versicherern

Hinweis

Der Beitrag gibt den Sachstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im BaFinJournal wieder und wird nicht nachträglich aktualisiert. Bitte beachten Sie die Allgemeinen Nutzungsbedingungen.

Zusatzinformationen

BaFinJournal 10/2019 (Download)

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