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Erscheinung:20.07.2016 | Thema Solvabilität Staatsanleihen: Behandlung von Risiken unter Solvency II

In der Vergangenheit wurden Staatsanleihen und Darlehen an Staaten, die Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) oder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind, grundsätzlich als risikolos eingestuft. Spätestens seit der europäischen Staatsschuldenkrise hat sich diese Sichtweise jedoch grundlegend verändert.

Es ist deutlich geworden, dass auch für Staatsanleihen ein Kredit- oder sogar ein Ausfallrisiko besteht.

Allerdings spiegeln sich diese Risiken gegenwärtig nicht in den Vorschriften zur Eigenmittelunterlegung unter dem europäischen Aufsichtssystem Solvency II wider. Versicherer, die ihre Solvenzkapitalanforderung mit einem internen Modell berechnen, müssen wesentliche Länderrisiken zwar berücksichtigen. Bei der Berechnung mit der Standardformel werden Staatsanleihen hingegen nur im Zins- und Fremdwährungsrisiko, nicht aber im Spread- und Konzentrationsrisiko erfasst.

Solvenzkapitalanforderung
Versicherer, die unter die Solvency-II-Rahmenrichtlinie fallen, müssen seit dem 1. Januar 2016 nach § 89 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) stets über anrechnungsfähige Eigenmittel mindestens in Höhe der Solvenzkapitalanforderung verfügen. Diese soll alle materiellen quantifizierbaren Risiken erfassen, denen ein Versicherer ausgesetzt ist. Nach § 96 Absatz 1 VAG können die Unternehmen die Solvenzkapitalanforderung entweder mittels einer europäisch einheitlichen Standardformel oder eines unternehmensindividuellen internen Modells ermitteln.

Dennoch sollten sich auch diese Versicherer intensiv mit den Staatenrisiken auseinandersetzen, insbesondere im Rahmen der Säule II, also der Anforderungen an das Governance-System. Das zeigen sowohl das neue Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) als auch diverse Leitlinien der Europäischen Versicherungsaufsichtsbehörde EIOPA, wie Versicherungswirtschaft und BaFin bei einem Kapitalanlagesymposium im Juni feststellten.

Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung

Eine wesentliche Komponente des Governance-Systems von Versicherern ist die Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung (Own Risk and Solvency AssessmentORSA). Dabei analysiert das Versicherungsunternehmen sein individuelles Risikoprofil und den daraus resultierenden Risikokapitalbedarf. Dies geschieht nach § 27 VAG losgelöst von den Solvenzkapitalanforderungen, die der Standardformel zugrunde liegen. Die Versicherer haben hierbei auch Risiken zu berücksichtigen, die gar nicht oder nicht ausreichend in die Standardformel einbezogen sind. Für diese Risiken müssen sie angemessene Bewertungsverfahren entwickeln. Dies betrifft auch die Risiken, die mit einem Engagement in Staatsanleihen verbunden sind, da sie in der Standardformel mit Null angesetzt werden.

Risikoarten
Zinsrisiko: Das Zinsrisiko (auch: Zinsänderungsrisiko) bezeichnet das Risiko der Veränderung der Zinskurve oder der Volatilität der Zinssätze.
Fremdwährungsrisiko: Das Fremdwährungsrisiko (auch: Wechselkursrisiko) bezeichnet das Risiko der Veränderung der Höhe oder der Volatilität der Wechselkurse.
Spreadrisiko: Das Spreadrisiko ist das Risiko der Veränderung der Höhe oder der Volatilität der Kreditspreads, also der Rendite-Marge über der risikofreien Zinskurve.
Konzentrationsrisiko: Das Konzentrationsrisiko ist das Risiko, das entweder durch eine mangelnde Diversifikation des Anlageportfolios oder durch eine hohe Exponierung gegenüber dem Ausfallrisiko eines einzelnen Wertpapieremittenten oder einer Gruppe verbundener Emittenten bedingt ist.

Die Versicherer haben sich auch damit auseinanderzusetzen, ob ihr Risikoprofil wesentlich von den Annahmen abweicht, die der Berechnung der Solvenzkapitalanforderung mit der Standardformel zugrunde liegen. Die Aufsicht geht davon aus, dass die Unternehmen aufgrund der für Staatsanleihen nicht vorgesehenen Eigenmittelunterlegung bei den Modulen für das Spread- und das Konzentrationsrisiko zu dem Ergebnis gelangen, dass innerhalb dieser Module eine Abweichung vorliegt. Sie haben dann zu prüfen, ob dies, gegebenenfalls zusammen mit anderen unterbewerteten Risiken, zu einer wesentlichen Abweichung ihres gesamten Risikoprofils von den Annahmen der Standardformel führt. Das Ergebnis ist samt Begründung sowie den eventuell durchgeführten Quantifizierungen zu dokumentieren. Um festzustellen, wie hoch der Kapitalbedarf ist und wie dieser gedeckt werden kann, müssen die Versicherer die wesentlichen Risiken einem ausreichend breiten Spektrum an unternehmensindividuellen Stresstests unterziehen. Die BaFin erwartet, dass Versicherer mit einem hohen Staatenexposure diesem Engagement bei ihren Stresstests besondere Bedeutung beimessen werden. Die Unternehmen sind gehalten, unterschiedliche Szenarien zu simulieren, beispielsweise den Ausfall eines oder mehrerer Staaten.

Wesentlichkeit
„Wesentlich“ sind Abweichungen des Risikoprofils von den Annahmen zur Berechnung der Solvenzkapitalanforderung mit der Standardformel dann, wenn sie zu einer Unterschätzung der Risiken führen. Die Unternehmen haben die Wesentlichkeitsgrenzen selbst entsprechend ihres Risikoprofils anhand geeigneter und nachvollziehbarer Kriterien festzulegen. Orientieren können sie sich dabei an den Schwellenwerten, die die Delegierte Verordnung zu Solvency II in Artikel 279 für Kapitalaufschläge vorsieht. Demnach sind Abweichungen von zehn Prozent in der Regel als wesentlich anzusehen. Abweichungen von 15 Prozent gelten als unwiderlegbar wesentlich. Weitere Hinweise finden sich in der Auslegungsentscheidung der BaFin zur Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung.

Bestehen wesentliche Abweichungen, so hat sich der Versicherer damit auseinanderzusetzen, welche Maßnahmen er ergreifen will. Möglich ist eine Angleichung des Risikoprofils an die Standardformel beispielsweise durch Umschichtungen von Vermögenswerten oder das Vorhalten von ausreichend Kapital. Der Versicherer kann aber auch ein internes oder ein Partialmodell entwickeln.

Des Weiteren haben die Unternehmen Risikomanagementmaßnahmen zu entwickeln und Fristen für nicht mit Kapital unterlegte Risiken festzulegen. Alle qualitativen und gegebenenfalls quantitativen Ergebnisse, einschließlich der der Stresstests, sowie die geplanten unternehmensinternen Maßnahmen müssen aus dem ORSA-Bericht hervorgehen, der an die Aufsicht zu übermitteln ist. Zudem hat der Bericht Aussagen zur Angemessenheit der Standardformel zu beinhalten.

Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht

Nach § 124 VAG müssen Versicherungsunternehmen ihre gesamten Vermögenswerte nach dem Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht anlegen. Sie dürfen ausschließlich in Vermögenswerte investieren, deren Risiken sie hinreichend identifizieren, bewerten, überwachen, steuern und kontrollieren können. Dies gilt auch für Investitionen in Staatsanleihen. Bei Vermögenswerten, die versicherungstechnische Rückstellungen bedecken, muss die Anlage Art und Frist der jeweiligen Verpflichtung und die Interessen der Versicherten berücksichtigen.

Des Weiteren sind gemäß § 124 Absatz 1 Nr. 2 VAG sämtliche Vermögensanlagen so anzulegen, dass die Sicherheit, Qualität, Liquidität und Rentabilität des Portfolios als Ganzes sichergestellt sind. Die EIOPA-Leitlinie zum Governance-System verpflichtet die Unternehmen, für das Anlagerisiko Risikomanagementleitlinien aufzustellen. Darin sollen sie den angestrebten Grad an Sicherheit in Bezug auf das gesamte Vermögensportfolio erfassen und beschreiben, wie dieser erreicht werden soll. Dazu haben die Versicherer einen internen Anlagekatalog aufzustellen. In diesem sollen sie quantitative Grenzen für Anlagen und Exposures festlegen, also auch für Staatenexposures.

Aus den Risikomanagementleitlinien für Anlagen hat hervorzugehen, dass sich das Unternehmen mit dem Finanzmarktumfeld auseinandersetzt und dieses entsprechend berücksichtigt. Unter dem Finanzmarktumfeld sind sowohl die generellen Gegebenheiten als auch aktuelle Entwicklungen und Regulierungsänderungen zu verstehen.

BaFin-Symposium
Am 21. Juni lud die BaFin zu einem Symposium zum Thema Staatsanleihen im Sicherungsvermögen der Versicherer nach Bonn. BaFin-Exekutivdirektor Dr. Frank Grund und weitere Experten der BaFin tauschten sich dort mit Vertretern der Versicherungsbranche und der Bundesbank dazu aus, wie Länderrisiken zu beurteilen sind, für die in der Standardformel gegenwärtig keine Eigenmittelunterlegung vorgesehen ist.
Die Unternehmensvertreter stellten dar, wie sie in Staatsanleihen investieren und mit den damit verbundenen Risiken umgehen. GDV (Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft) und Bundesbank gingen darauf ein, wie das Niedrigzinsumfeld die Anlagepolitik beeinflusst, BaFin-Vertreter sprachen über die Behandlung von Staatsanleihen aus aufsichtsrechtlicher Sicht. Marc Wolbeck, Leiter des Referats für Kapitalanlagen, schilderte den Umgang mit Risiken in der Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung (Own Risk and Solvency AssessmentORSA), beim Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht (Prudent Person Principle) und im Rahmen der eigenen Kreditrisikobewertung. BaFin-Experte Dr. Andreas Zapp schlug den Bogen zum internen Modell.
Unternehmen und Aufsicht waren sich darin einig, dass sich Versicherer, die Staatsanleihen im Bestand haben, mit diesem Engagement und den hiermit verbundenen Risiken auseinandersetzen sollten. Die Versicherungsaufsicht beabsichtigt nun, ab dem dritten Quartal Workshops mit der Versicherungswirtschaft zu organisieren, um zu einem gemeinsamen Verständnis der Staatenrisiken und deren Abbildung im neuen Aufsichtssystem Solvency II zu gelangen.

Eigene Kreditrisikobewertungen

Die Versicherer haben nach § 28 Absatz 2 VAG außerdem die Pflichten einzuhalten, die sich aus der 2013 überarbeiteten Ratingverordnung ergeben. Für sie ist insbesondere Artikel 5a der Verordnung von Bedeutung, nach der sie eigene Kreditrisikobewertungen vornehmen müssen.

Die Einzelheiten sind noch nicht abschließend geklärt. Solange die drei europäischen Aufsichtsbehörden (ESAs) noch keine weiteren Informationen zur Konkretisierung veröffentlicht haben, wird sich die Versicherungsaufsicht an den Hinweisen zur Verwendung externer Ratings und zur Durchführung eigener Kreditrisikobewertungen orientieren, die sie im Oktober 2013 veröffentlicht hat. Demnach haben Versicherer bei Staatsanleihen selbst eine Kreditrisikobewertung in Form einer Plausibilisierung einer externen Ratingbeurteilung vorzunehmen, da es sich hier um marktüblich geratete Vermögensanlagen handelt. Die Kreditrisikobewertung ist nachprüfbar zu dokumentieren. Bewertet ein Unternehmen eine Anleihe besser als die Ratingagentur, ist neben der qualitativen Beurteilung eine angemessene quantitative Bewertung hinzuzufügen. Je höher das Staatenexposure, desto umfangreicher hat auch die eigene Kreditrisikobewertung auszufallen.

Für die Überprüfung externer Staatenratings bietet es sich an, volkswirtschaftliche Kennzahlen aufzubereiten und zu vergleichen. Das Unternehmen hat sich einen Überblick über den Staatshaushalt zu verschaffen. Der Blick auf das Defizit und die Schuldenquote eines Staates reicht jedoch nicht aus. Weitere Kriterien können beispielsweise Garantien oder Bürgschaften sein, denen der Staat ausgesetzt ist. Auch eine Analyse der Stabilität der Regierung und des Rechts- und Finanzsystems sowie der Verpflichtungen, die mit Mitgliedschaften in internationalen Organisationen verbunden sind, kann sinnvoll sein.

Good-Practice-Ansätze

Ziel der Aufsicht ist es, mit der Versicherungswirtschaft ein gemeinsames Verständnis der Risiken und deren Behandlung zu schaffen, insbesondere im Rahmen des ORSA, beim Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht und bei der eigenen Kreditrisikobewertung.

In den kommenden Monaten will sie darum Workshops organisieren, um zusammen mit der Branche „Good-Practice-Ansätze“ zu erarbeiten, also sinnvolle Verfahrensweisen.

Hinweis

Der Beitrag gibt den Sachstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im BaFinJournal wieder und wird nicht nachträglich aktualisiert. Bitte beachten Sie die Allgemeinen Nutzungsbedingungen.

Autor: Nadine von Saldern, BaFin

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