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Abbildung des Covers und eines aufgeschlagenen Exemplars der ersten Ausgabe der BaFinPerspektiven im Jahr 2019 © BaFin / www.freepik.com

Erscheinung:28.02.2019 | Thema Fintech Das Versicherungskollektiv in Zeiten von Big Data und Artificial Intelligence

Die Tarifierung und Preisfestlegung im Versicherungsgeschäft beruht auf einer umfangreichen Basis an Vergangenheitsdaten und Prognosewerten. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Big Data (BD) und der schnellen, innovativen Entwicklung von Artificial Intelligence (AI) verändern sich auch die Möglichkeiten individueller Tarifierungen. Der vorliegende Beitrag untersucht die Auswirkungen auf den Risikoausgleich im Kollektiv.

Einleitung

Big Data und Artificial Intelligence (BDAI) sind inzwischen stark diskutierte Schlagwörter, die mit einer großen disruptiven Kraft und einem hohen Veränderungspotenzial für bestehende Geschäftsmodelle in Verbindung gebracht werden. Insbesondere steigen damit die Möglichkeiten zur Individualisierung von Produkten und Preisen, von Kundenansprachen und der Automatisierung aller möglichen Unternehmensprozesse.

Die Entwicklungen gehen auch an der Versicherungswirtschaft nicht vorbei. So ergeben sich unter anderem Nutzungspotenziale bei der Risikoselektion, der (individualisierten) Prämienkalkulation und Tarifierung. Dabei treten nicht nur Fragestellungen hinsichtlich der Datensicherheit und des Datenschutzes auf. In der Diskussion stehen zugleich Aspekte der Zuverlässigkeit und Zulässigkeit von Big-Data-Nutzungen und einer möglichen Benachteiligung von Versicherungsnehmern mit schicksalsbedingt höheren Risiken. Zu guter Letzt stellt sich vielen die Frage, inwiefern der Risikoausgleich im Kollektiv und damit das Versicherungsprinzip bei individueller Prämienkalkulation und Tarifierung überhaupt noch funktioniert.

Um es vorwegzunehmen: Dem Versicherungskollektiv und dem Risikoausgleich schaden individualisierte Versicherungsprämien, die auf Basis von Big Data und Artificial Intelligence viel genauer ermittelt werden können, grundsätzlich nicht – im Gegenteil. Wie sich diese digitalen und technologischen Entwicklungen genau auf den Risikoausgleich im Kollektiv auswirken, wird im Folgenden analysiert.

Definition Versicherung

„Versicherung ist die Deckung eines im Einzelnen ungewissen, insgesamt geschätzten Mittelbedarfs auf der Grundlage des Risikoausgleichs im Kollektiv und in der Zeit“

Dieter Farny1

Diese Begriffsumschreibung umfasst sowohl die wesentlichen Merkmale als auch das eigentliche Geschäftsmodell eines Versicherungsunternehmens. Ein hinreichendes Verständnis des Konzepts von privatwirtschaftlich organisiertem Versicherungsschutz setzt eine tiefergehende Erläuterung der einzelnen Definitionsbestandteile voraus.

„Deckung eines (…) insgesamt geschätzten Mittelbedarfs“

Eine wesentliche Eigenschaft des Versicherungsgeschäfts ist die Stochastizität. Die Stochastik beschäftigt sich vereinfacht mit Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Ereignissen und deren Ergebnissen.2 Auf Basis von Erfahrungen der Vergangenheit sowie mit Hilfe des Gesetzes der großen Zahl3 werden Wahrscheinlichkeitsverteilungen mit Erwartungswerten und Streuungen von Ergebnissen zufälliger Ereignisse in die Zukunft projiziert. Je mehr Einzelwerte der Ermittlung zugrunde liegen, desto zuverlässiger sind die Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Beispielhaft sei das Ergebnis beim Auswerfen eines Würfels genannt. Zwar ist das einzelne Wurfergebnis vom Zufall geprägt; allerdings ist der Erwartungswert für die Augenzahl stets 3,5 und die Streuung der Ergebnisse reicht von 1 bis 6. Die Wahrscheinlichkeit, bei nur einem Auswerfen die Augenzahl von 3,5 zu erreichen, ist null. Je häufiger aber das Zufallsexperiment wiederholt werden soll und anschließend ein Durchschnitt zu errechnen ist, desto zuverlässiger wird die Schätzung, nahe am Erwartungswert von 3,5 auszulaufen.

In einem Versicherungsgeschäft werden meist die wirtschaftlichen Folgen des Eintritts unerwünschter realer Ereignisse, also von Gefahren, gedeckt. So werden beispielsweise in der verbundenen Hausratversicherung4 die Gefahren Einbruchdiebstahl, Leitungswasser, Sturm und Feuer abgesichert. Die wirtschaftlichen Folgen werden als Risiken5 bezeichnet und sind in Geld bemessene Schäden bzw. Mittelbedarfe, um die eingetretenen Ereignisse gegen zu finanzieren.6 Der einzelne Versicherungsnehmer erhält also eine im Versicherungsvertrag festgelegte Entschädigungszahlung, wenn sich eine der versicherten Gefahren und damit ein wirtschaftliches Risiko konkretisiert. Weil dies aber vom Zufall abhängt, ist die auszuzahlende Leistung im Vorfeld unbekannt. Auf Basis statistischer Vergangenheitswerte sowie unter Einbezug von Risikofaktoren (zum Beispiel Wohnadresse, Bauweise) werden Erwartungswerte für die Schadenhäufigkeit und die Schadenhöhe in einem Bestand versicherter Risiken kalkuliert, und ein vom Versicherer insgesamt zu deckender Mittelbedarf wird geschätzt. Und wie beim Würfelbeispiel wird die Schätzung umso genauer, je mehr Zufallsexperimente ein Kollektiv umfasst, d.h. je mehr Risiken (= einzelne Versicherungsverhältnisse) in den Bestand einbezogen sind.

Für eine zuverlässige Schätzung ist allerdings eine weitgehende Homogenität der versicherten Ereignisse bzw. Risiken erforderlich. Denn eine Schätzung von Durchschnittsschäden aus heterogenen Risiken bei einem Versicherer A würde für die unterdurchschnittlich schadenexponierten Risiken zu einer überhöhten Kalkulation des Mittelbedarfs und damit auch zu überhöhten Versicherungsprämien führen. Umgekehrt würden überdurchschnittlich schadenexponierte Risiken zu gering kalkuliert und bepreist. Die Konsequenz wäre unter Konkurrenzbedingungen mit einem richtig kalkulierenden Wettbewerber B und bei entsprechender Markttransparenz eine Antiselektion von überhöhten Risiken zu Durchschnittsprämien bei Versicherer A.

"im einzelnen ungewiss“

Ein funktionsfähiges Versicherungsgeschäft bedingt die Ungewissheit des Eintritts jedes einzelnen Versicherungsfalls, da sonst ein elementares Kriterium der Versicherbarkeit7 von Risiken nicht erfüllt ist. Ein sicheres Ereignis ist nicht sinnvoll versicherbar, weil schon die Risikoprämie der Höhe des (sicheren) Schadens entsprechen müsste; hinzu kämen noch die Administrationskosten. Und ein Ereignis, das sicher nicht eintritt, bedarf keines Schutzversprechens. Der Schadeneintritt muss also vom Zufall geprägt sein. Dies bedeutet, dass sowohl der Versicherungsnehmer als auch das Versicherungsunternehmen im Vorfeld nicht wissen, ob, in welcher Höhe und/oder wann der individuelle Schaden entsteht. Um Informationsasymmetrie und damit die gegenseitige Übervorteilung bei der Versicherungsentscheidung zu vermeiden, sollte der Grad an Ungewissheit auf beiden Seiten in etwa gleich hoch sein. Allerdings ist das Versicherungsgeschäft in der Realität stark von Informationsasymmetrien geprägt.8 In der Regel kennt der Versicherungsnehmer sein persönliches Risiko viel besser als der Versicherer und kann dieses sogar beeinflussen. Versicherungsunternehmen können solche Informationsasymmetrien mit Hilfe von Antragsfragen, Besichtigungen und (im Personengeschäft) ärztlichen Untersuchungen sowie Obliegenheiten9 verringern. Zudem besitzen die Versicherer umgekehrt aufgrund ihrer umfangreichen Statistiken einen Informationsvorsprung über die Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Schäden, den sie in Form von überhöhten Risikoprämien gegenüber den Versicherungsnehmern ausspielen könnten. Da allerdings die Preistransparenz in Zeiten von Vergleichsportalen sowie Online-Maklern steigt, würde solch ein Verhalten durch die Mechanismen des Wettbewerbsmarkts tendenziell sanktioniert.

Risikoausgleich im Kollektiv

Im Vordergrund eines Versicherungsvertrags steht der Transfer einer Wahrscheinlichkeitsverteilung10 von Schäden vom Versicherungsnehmer auf das Versicherungsunternehmen. Da ein Versicherungsunternehmen diverse Schadenereignisse einer Vielzahl von Versicherungsnehmern deckt, hat es auch eine Vielzahl von Risiken in seinem Versicherungsbestand, die sich untereinander ausgleichen.

Erneut greift hier das Würfelbeispiel, um den Risikoausgleich im Kollektiv zu erklären. Bei einem fairen Würfel ist die Wahrscheinlichkeit für alle möglichen Würfelergebnisse, also für das Erreichen der verschiedenen Augenzahlen 1, 2, … 6, gleich hoch. Da bei einer Reihe von Zufallsereignissen (also einzelnen Würfelvorgängen) voneinander unabhängige Ergebnisse entstehen, werden sich gegenüber dem Erwartungswert tendenziell höhere und niedrige Würfelergebnisse untereinander ausgleichen, so dass sich das Durchschnittsergebnis entsprechend der ursprünglichen Schätzung bei 3,5 einpendeln wird – und dies umso zuverlässiger, je häufiger gewürfelt wird (Gesetz der großen Zahl, s.o.). Genauso verhält es sich bei versicherten Risiken in der Realität. Eine weitere Voraussetzung ist allerdings die Unabhängigkeit der Risiken untereinander. Wenn keine Unabhängigkeit vorliegt, wie zum Beispiel bei Sturmschäden innerhalb einer abgegrenzten Region, können sich schadenbelastete und schadenfreie Risiken nicht mehr untereinander kompensieren, und der Risikoausgleich misslingt.

Während für das Schätzkollektiv die Homogenität der Einzelrisiken also von großer Bedeutung ist (s.o.), gilt dies allerdings nicht für den Risikoausgleich im Kollektiv. Hier liegt häufig ein Missverständnis über das Versicherungsprinzip vor. Auch heterogene Risiken, gemessen am Schadenerwartungswert, können sich untereinander ausgleichen, vorausgesetzt, sie werden jeweils mit der richtigen Versicherungsprämie unterlegt. Beispielsweise können in ein Kollektiv von Risikolebensversicherungen auch Versicherte unterschiedlichen Alters und damit unterschiedlicher Sterbewahrscheinlichkeiten aufgenommen werden, wenn unter sonst gleichen Umständen ältere Versicherte eine risikoadäquat höhere Prämie als jüngere Versicherte zahlen. Der Risikoausgleich wird dann nicht gestört. Vorab muss jedoch bei der Schätzung des Risikos und damit bei der Prämienkalkulation passend nach dem Alter der Versicherten differenziert werden.

Risikoausgleich in der Zeit

Der Risikoausgleich im Kollektiv umfasst als Betrachtungszeitraum immer nur eine begrenzte Zeitperiode und funktioniert typischerweise nie perfekt. Innerhalb einer Periode bleiben regelmäßig Über- oder Unterschäden übrig, die sich über die Zeit allerdings tendenziell ebenfalls wieder ausgleichen. Anders ausgedrückt: Perioden mit Unterschäden gleichen Perioden mit Überschäden aus. Damit ist der Risikoausgleich in der Zeit erklärt, der zugleich die Langfristigkeit des Versicherungsgeschäfts erfordert und prägt. Ideale Voraussetzungen für den Risikoausgleich in der Zeit sind konstante Eigenschaften aller Einzelrisiken im Versicherungsbestand und zudem eine gleichbleibende Bestandszusammensetzung. Dies bedeutet, dass der Schadenerwartungswert und die Schadenstreuung möglichst keinem Änderungsrisiko unterliegen oder sich die Änderungsrisiken innerhalb des Gesamtkollektivs tendenziell wieder ausgleichen. Ein über die Zeit konstantes Gesamtkollektiv ist in der Praxis allerdings kaum gegeben, da der Versicherungsbestand von Zu- und Abgängen sowie einer sich verändernden Risikolandschaft geprägt ist. Wegen der Grenzen des Risikoausgleichs im Kollektiv und in der Zeit verbleibt immer ein versicherungstechnisches Risiko für das Versicherungsunternehmen.

Versicherungstechnisches Risiko

Das versicherungstechnische Risiko beschreibt die Möglichkeit, dass der kollektive Schadeneffektivwert den kollektiven Schadenerwartungswert übersteigt und der Versicherer hierdurch Verlustrisiken oder sogar dem Risiko des Ruins unterliegt, da die eingenommenen Risikoprämien ggf. nicht ausreichen, um die eingetretenen Schäden zu bezahlen.11 Das versicherungstechnische Risiko kann ursächlich in das Zufalls-, Änderungs- und Irrtumsrisiko unterteilt werden.12

Das Zufallsrisiko tritt ein, wenn der Schadeneffektivwert vom Schadenerwartungswert abweicht, weil sich zufällig überdurchschnittlich viele und/oder hohe Schäden ereignet haben.13

Dem Änderungsrisiko liegt der mögliche Fall zugrunde, dass sich die Risikoverhältnisse im Zeitablauf gegenüber den ursprünglich bei der Prämienkalkulation zugrunde gelegten Annahmen in ungünstiger Weise ändern und der Schadeneffektivwert deswegen am Ende den Schadenerwartungswert übersteigt.14

Die Bedeutung des Irrtumsrisikos geht aus seiner Bezeichnung bereits hervor. Das Irrtumsrisiko konkretisiert sich bei fehlerhaften Schätzannahmen.15

Funktionsweise der Versicherung: Das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip

Die konzeptionelle Grundlage zur Berechnung der Risikoprämien16 ist das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip. Nach dem versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip entspricht die Risikoprämie dem Schadenerwartungswert des in Deckung genommenen Risikos.

In einer weiteren Differenzierung lassen sich das kollektive und das individuelle versicherungstechnische Äquivalenzprinzip voneinander unterscheiden. Bei einer Prämienermittlung nach dem individuellen versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip ist die Höhe der vom Versicherungsnehmer zu zahlenden Risikoprämie gleich der Höhe seines ganz individuellen Schadenerwartungswerts. Nach dem kollektiven versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip entspricht die Gesamtheit der Risikoprämien aus einem Versicherungsbestand dem kollektiven Gesamtschadenerwartungswert. Das individuelle versicherungstechnische Äquivalenzprinzip schließt gleichsam das kollektive versicherungstechnische Äquivalenzprinzip mit ein; denn wenn jeder Versicherungsnehmer die Risikoprämie für den Anteil seines Schadenerwartungswerts am Gesamtkollektiv erbringt, entspricht die Summe der individuellen Risikoprämien auch dem aggregierten Schadenerwartungswert eines Kollektivs.17 Umgekehrt muss die durch die Anzahl der Versicherungsnehmer geteilte kollektive Risikoprämie nicht gleich dem individuellen Schadenerwartungswert sein. Bei heterogenen Risiken liegt dann eine Durchschnittsprämie für unterschiedliche, d.h. teils überdurchschnittlich und teils unterdurchschnittlich schadenexponierte, Risiken vor, für die jeweils unterdeckende bzw. überdeckende Versicherungsprämien eingefordert würden – mit den Folgen von Antiselektion, wie folgt:

Angenommen seien mehrere auf einem transparenten Versicherungsmarkt unter Konkurrenzbedingungen agierende Versicherungsunternehmen. Auf diesem erhebt Versicherer 1 Risikoprämien, die an die individuellen Schadenerwartungswerte angeglichen sind, und ein anderer Versicherer 2 durchschnittliche Risikoprämien für seinen Versicherungsbestand. Nutzenmaximierende, rationale Versicherungsnehmer mit unterdurchschnittlichen Risiken (also solchen mit einem gegenüber dem Durchschnitt geringeren Schadenerwartungswert) schließen in diesem Fall ihren Versicherungsvertrag bei Versicherer 1 mit entsprechend geringeren Risikoprämien ab. Versicherungsnehmer mit überdurchschnittlichen Risiken (also solchen mit einem gegenüber dem Durchschnitt erhöhten Schadenerwartungswert) entscheiden sich für Versicherer 2 mit der durchschnittlichen Risikoprämie, da diese immer noch unter ihrem eigentlichen Schadenerwartungswert liegt. Passt Versicherer 2 seine Risikoprämie nicht schnell genug an das neu zusammengesetzte Kollektiv an, läuft er Gefahr, in den Ruin zu fallen.

Nach bisherigem Stand kann eine Risikoprämie allenfalls näherungsweise nach dem individuellen versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip kalkuliert werden. Für eine weitere Annäherung fehlen derzeit eine zuverlässige Datenbasis sowie informationstechnische Verarbeitungsprozesse. Als Datenbasis dienen grundsätzlich Informationen über Risikomerkmale, die im Wesentlichen drei Anforderungen erfüllen müssen:

  1. Es muss ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen den Ausprägungen der Risikomerkmale einerseits und dem Verlauf der Schadenverteilung18 (mit dem Schadenerwartungswert und der Schadenstreuung) andererseits vorliegen.
  2. Der Zusammenhang muss plausibel sein, um Scheinkorrelationen auszuschließen.
  3. Die Ausprägungen der Risikomerkmale müssen für das Versicherungsunternehmen operativ erfassbar sein.

Zugunsten der Erfassbarkeit dominieren heute sogenannte „objektive Risikomerkmale19, deren Ausprägungen von außen tendenziell leicht und zuverlässig erhoben werden können. Beispiele sind in der Kfz-Versicherung die Typklasse des Automobils, der Wohnort des Halters (Regionalklasse), die Dauer des Führerscheinbesitzes etc. Mit über 100 Risikomerkmalen, die marktweit verwendet werden, sind die Kfz-Versicherer schon heute in der Lage, das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip bis in kleinste Tarifzellen herunterzubrechen, denen jeweils nur wenige, teils sogar nur einzelne Risiken angehören. Vermutlich ist sogar die Anzahl der Tarifzellen, die mit den gegebenen Risikomerkmalen nach den Regeln der Kombinatorik gebildet werden können, deutlich höher als die marktweite Zahl der versicherten Risiken. Aus der Summe der Einzelprämien, die auf diese Weise ermittelt werden, dürfte hochgerechnet für das Kollektiv eine Gesamtprämie resultieren, die dem versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip in hohem Maße genügt. Dennoch bleibt das individuelle versicherungstechnische Äquivalenzprinzip unvollkommen erfüllt. Es fehlt vor allem an der Erhebung und Verarbeitung subjektiver Risikomerkmale, die insbesondere für die Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Autofahrer stehen und die für die Schadenträchtigkeit besonders relevant sind – bis heute aber nicht oder kaum erfasst werden konnten. Vielfach dienen vor diesem Hintergrund die objektiven Risikomerkmale als unvollkommene Ersatzmerkmale für die subjektiven Risikomerkmale.20 Konkreter ausgedrückt: Die Typklasse des Fahrzeugs, der Wohnort des Halters und die Dauer des Führerscheinbesitzes sind nicht dafür verantwortlich, ob der Autofahrer unterwegs einen Unfall verursacht. Sie sind aber statistisch signifikante, plausible und gut erfassbare Indizien für die Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen des Versicherungsnehmers im Straßenverkehr. Im Durchschnitt mögen diese Zusammenhänge stimmen; in den Einzelfällen dürften jedoch vielfach Abweichungen von den plausiblen Annahmen und den statistischen Werten vorliegen.21

Die digitale Revolution

Grundlagen zur Digitalisierung

Die Geschwindigkeit und Dynamik, mit denen der technische, vor allem der informationstechnische Fortschritt voranschreitet, ist beeindruckend und herausfordernd zugleich. Oft ist inzwischen die Entwicklung neuer Datengrundlagen, Technologien und möglicher Prozesse schneller als die Bereitschaft und Fähigkeit von Unternehmen und ganzen Branchen, diese in einem rechtlich teils noch ungeklärten Umfeld anzuwenden. Die Begeisterung, das Interesse und manchmal schlichtweg die Normalität, mit der die neuen Technologien in der breiten Bevölkerung und von Konsumenten angewandt werden, fördern die Weiterentwicklungen umso mehr. Das Anspruchsdenken bzw. die Erwartungshaltung an digitale Anwendungen lässt sich selbst bei öffentlichen Verwaltungen und in Schulen beobachten.22

Der Begriff Digitalisierung an sich meint zunächst nur die Transformation von Ziffern, Buchstaben, Texten, Bildern, Videos und anderen Datentypen in ein digitales Format, ferner deren Speicherung und Verarbeitung mittels unterschiedlicher Computertechnologien.23 Auch in der deutschen Versicherungswirtschaft bedarf es einer zügigen und erfolgreichen Fortentwicklung entsprechender digitaler Fähigkeiten, möchte sie im Verhältnis zu anderen Branchen sowie international wettbewerbsfähig bleiben. Als für Versicherungsunternehmen bedeutsame Treiber werden nachfolgend die Faktoren Big Data und Artificial Intelligence dargestellt und deren potenzielle Auswirkungen auf das Versicherungskollektiv grundlegend untersucht.

Big Data

Big Data steht für die Verfügbarkeit großer digitaler Datenmengen und deren technologische Auswertungsmöglichkeiten. Der Trend zu Big Data wird durch die zunehmenden Speicherkapazitäten und die steigende Verarbeitungsgeschwindigkeit neuer Computertechnologien getrieben und beschleunigt.24

Zur Charakterisierung von Big Data können vier Dimensionen von Kriterien herangezogen werden: Volume, Velocity, Variety und Value.25

Volume beschreibt Big Data mit der verfügbaren Datenmenge und der Maßgröße Byte. Die jährlich generierte digitale Datenmenge wird in den nächsten Jahren rasant wachsen. Wurden 2016 16,1 Zetabyte26 an digitalen Daten weltweit generiert, soll sich diese Zahl bis zum Jahr 2025 verzehnfachen.27 Das Kriterium Velocity steht für die Geschwindigkeit der Datenerzeugung und -verarbeitung. Die Datenvielfalt ist Gegenstand des Kriteriums Variety. Damit sind nicht lediglich unterschiedliche Dateiformate (zum Beispiel Bilder, E-Mails, Word- und PDF-Dateien, Videos) gemeint, sondern auch ihr Strukturierungsgrad. Daten sind unstrukturiert, wenn sie keiner formalisierten Ordnung entsprechen. Dies ist in der Regel bei Bildern und E-Mails der Fall. Semistrukturierte Daten weisen entweder keine fest typisierte, sondern lediglich eine versteckte Struktur auf, oder sie sind insgesamt unterschiedlich strukturiert. Mit der Struktur sind neben den Dateiformaten, die mit der Unternehmensdatenbank kompatibel sein müssen, auch die Strukturen der Feldtypen (Beispiel: Titel_Quelle_Datum) gemeint, die eine Datei in einer Datenbank näher beschreiben.28

Die Investitionen in Informationstechnologien zur Speicherung und Verarbeitung von Big Data sollen sich selbstverständlich amortisieren und den Unternehmenswert steigern. Anders ist die Sammlung, Speicherung und Auswertung von Big Data aus unternehmerischen Gesichtspunkten nicht sinnvoll. Diese Zielsetzung ist im Kriterium Value enthalten.29

Bei der Nutzung extern beschaffter Daten sind deren Qualität und Aussagekraft zu überprüfen. Außerdem ist zu beachten, dass bei personenbezogenen Daten die betroffene Person nach Artikel 15 Absatz 1 lit. g der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)30 über ein Auskunftsrecht der Datenherkunft verfügt.

Der Übergang von herkömmlichen Datenbeständen und deren Auswertungen hin zu Big Data ist fließend. Traditionell verfügen Versicherungsunternehmen über große Datenbestände mit langen Historien, die zum Beispiel aus den Antragserhebungen und Schadenerfahrungen hervorgehen. Vielfach liegen diese Daten allerdings in verteilten Datenbanksystemen und wurden/werden nicht zusammengefügt. Auch die Datenqualität – im Sinne von laufender Aktualisierung und Harmonisierung – ist meist verbesserungswürdig. Inzwischen können auch Daten über subjektive Risikomerkmale mittels Smart Gadgets verfügbar gemacht werden. Und zunehmend bestehen Möglichkeiten, Daten aus externen Quellen zu erlangen. Dazu zählen spezielle Datenprovider, Websites und das Social Web.31 Insbesondere gegenüber den US-Bigtechs (Google, Amazon, Facebook, Apple, kurz Gafa & Co.) und anderen Branchen besteht allerdings ein großer Rückstand, weil noch kaum Open Data und Daten in Echtzeit erfasst werden. Open Data sind „ungefilterte und maschinenlesbare elektronische Daten, die jedem öffentlich, zweckfrei und unverbindlich zur Verfügung gestellt werden“.32 Sie kommen in der Regel von der Bundesverwaltung und umfassen zum Beispiel Informationen über den Verkehr, den Tourismus oder das Wetter.33 Wie allen anderen Unternehmen aus sämtlichen Branchen steht es auch Versicherungsunternehmen frei, zusätzlich Open Data für die Optimierung ihrer Produkte, Services und Geschäftsprozesse, zum Beispiel als Tarifierungsgrundlage, zu integrieren.

Daneben können Echtzeitdaten dazu beitragen, Aktivitäten und Verhaltensweisen von Versicherungsnehmern und Versicherten zu entschlüsseln, um unter anderem auf die Risikoverhältnisse zu schließen. Echtzeitdaten werden heute schon in großen Mengen etwa von Smartphones und Wearables über die Nutzer erfasst und von den Herstellern ausgewertet. Automobilhersteller sind in der Lage, das Fahrverhalten der Kraftfahrzeugführer in Echtzeit zu messen. Die Frage wird sein, wer in Zukunft vom Souverän dieser Daten (das sollte immer der gemessene Bürger selbst sein) legitimiert wird, solche Daten für welche Zwecke verwenden zu dürfen. Versicherer wären mit personifizierten Echtzeitdaten wiederum zum Beispiel in der Lage, auch den subjektiven Risikomerkmalen deutlich näher zu kommen.

Die Versicherungswirtschaft macht im Spielfeld von Big Data inzwischen aber auch Fortschritte. So werden in der Kraftfahrzeugversicherung vermehrt Pay-as-you-drive- und Pay-how-you-drive-Tarife entwickelt und angeboten. Bei Pay-as-you-drive-Tarifen wird die Versicherungsprämie kilometergenau je tatsächlich gefahrenen Kilometer berechnet, während bei Pay-how-you-drive-Tarifen das persönliche Fahrverhalten analysiert wird und Gegenstand der individuellen Prämienkalkulation ist.34

Weitere Entwicklungslinien in anderen Versicherungszweigen stellen Pay-as-you-live-Tarife dar. Hier werden Daten über das persönliche alltägliche Verhalten mittels Wearables, wie zum Beispiel Smart Watches, ausgelesen oder ebenfalls durch Smartphones oder Technologien im Smart Home35 an das Versicherungsunternehmen übermittelt. Allerdings sind die Versicherer mit diesen Konzepten insgesamt noch eher zurückhaltend.36

Der Umgang mit Big Data ist an technische, personelle und intellektuelle Voraussetzungen geknüpft. Die Kunst liegt in der Generierung von Smart Data, die weitere Gütekriterien erfüllen, wie zum Beispiel datenschutzrechtliche Anforderungen und gesellschaftliche Akzeptanz.

Um Big Data effizient und sinnvoll innerhalb der Risikoanalyse und Versicherungstarifierung nutzen zu können, bieten die Entwicklungslinien der künstlichen Intelligenz neue Ansätze.

Artificial Intelligence

Eine allgemeingültige Definition von Intelligenz ist kaum zu finden. Als charakteristisch für menschliche Intelligenz werden zum Beispiel praktische Problemlösungsfähigkeiten, verbale Fähigkeiten und soziale Kompetenzen genannt.37

Mit Artificial Intelligence (deutsch: künstliche Intelligenz) ist die Fähigkeit von Aufgabenlösungen durch Computertechnologien gemeint, über die sonst nur Menschen aufgrund ihrer intellektuellen Verarbeitungsfähigkeiten verfügen.38 Ohne Anspruch auf Trennschärfe können nach Intelligenzstufen eine schwache künstliche Intelligenz und eine starke künstliche Intelligenz unterschieden werden.39

Auf Basis schwacher künstlicher Intelligenz sind computergetriebene Maschinen in der Lage, Lösungen zu entwickeln, die sich auf bestimmte, angelernte Aufgaben beschränken. Beispiele sind Navigationssysteme und die Korrekturfunktionen in elektronischen Schriftmedien. Von starker künstlicher Intelligenz wird gesprochen, wenn Maschinen menschliche Intelligenz nachbilden und breitere kognitivere Leistungen erzielen.40 Dies trifft dann zu, wenn Maschinen logische Schlüsse ziehen können, stetig dazulernen oder kluge Entscheidungen unter Unsicherheit treffen.

Für die Entwicklung künstlicher Intelligenz wurden und werden die neuronalen Netze, also Netzwerke aus Nervenzellen, des menschlichen Gehirns untersucht, mittels moderner Technologien modelliert und somit stückweise imitiert. Im Fall einer starken künstlichen Intelligenz wird computerbetriebenen Maschinen die Fähigkeit zum Lernen (Machine Learning41) und damit verbunden zur Urteilsbildung und Problemlösung übermittelt.42 Deep Learning ist ein Teilaspekt des Machine Learnings, bei dem Maschinen Fähigkeiten zur Prognosestellung und zum Fällen eigener Entscheidungen entwickeln.43

Wirkungsweisen von Big Data und Artificial Intelligence in Kalkulation und Tarifierung

Artificial Intelligence ermöglicht erstmals eine sinnvolle und effiziente Nutzung von Big Data. Innovative Prozesse, die auf die Leistung künstlicher Intelligenz zurückgreifen, wie etwa Entwicklungen im Bereich Smart Data Analytics, können große, unstrukturierte Datenmengen nutzbar machen, indem sie sie filtern, selektieren, sortieren und in ein einheitliches Format transformieren. Unter Einsatz künstlicher Intelligenz anstelle von menschlicher Intelligenz können teure Mitarbeiterkapazitäten gespart und anderweitig eingesetzt werden. Zudem kommt es bei der Bearbeitung großer Datenmengen mit künstlicher Intelligenz zu keinen Ermüdungserscheinungen. Die Bearbeitung erfolgt somit schneller und fehlerfreier.

Mit Hilfe von Pattern-Analysen, also Mustererkennungen, wird es unter anderem möglich, die Zusammenhänge zwischen Echtzeitdaten einerseits und Verhaltensausprägungen sowie Schadenpotenzialen andrerseits zuverlässig und effizient zu erforschen. Damit werden auch die Analyse und Auswertung von subjektiven Risikomerkmalen entscheidend vorangebracht.

Auf Basis dieser Erkenntnisse und einer Dunkelverarbeitung von Big Data kann somit unter anderem eine Echtzeittarifierung ermöglicht werden. Beim Versicherer eingehende verhaltensbasierte Daten aus den Sensoren eines Kraftfahrzeugs, von der Smart Watch oder anderen Fitnesstrackern sowie aus einem Smart Home können mittels intelligenter, automatisierter Prozesse unverzüglich analysiert und in einem personalisierten Versicherungstarif mit individueller Prämie verarbeitet werden. Auch Bonus-Malus-Regelungen könnten bei bestimmten, im Vorfeld definierten Verhaltensweisen, automatisiert und unverzüglich umgesetzt werden. Der erhebliche Zugewinn an Verarbeitungskapazität, -geschwindigkeit und –flexibilität kann schließlich zu nahezu gänzlich individualisierten Versicherungsprämien führen. Außerdem können künstlich intelligente Prozesse durch die akribische Analyse von Big Data vorhandene Informationsasymmetrien, die zulasten des Versicherers gehen, verringern.

Zum heutigen Stand müssen die notwendigen Voraussetzungen für den Einsatz künstlicher Intelligenz in Versicherungsunternehmen allerdings teilweise erst noch geschaffen werden. Zunächst muss den Versicherungsnehmern der in der Weitergabe von Daten liegende Nutzen aufgezeigt werden. Daten, die bereits im Versicherungsunternehmen über viele ältere Systeme verteilt sind, müssen datenschutzkonform zentralisiert und zur Analyse zur Verfügung gestellt werden. Zu beachten ist ferner, dass das Versicherungsunternehmen den Versicherungsnehmern nach Artikel 13 Absatz 2 lit. f DSGVO mitteilen muss, welche Logik der automatisierten Entscheidungsfindung zugrunde liegt. Das wird per se problematisch, denn zumindest starker künstlicher Intelligenz liegt kaum noch ein nachvollziehbarer Algorithmus zugrunde, der aufgedeckt und kommuniziert werden könnte.

In der Folge wird künstliche Intelligenz nach den geltenden Regeln die menschliche Intelligenz bei der Tarifierung nicht gänzlich ersetzen können. Zwar können damit die Anforderungen der statistischen Signifikanz und (zusammen mit den digitalen Möglichkeiten der Datengewinnung) die Probleme der Erfassbarkeit von Verhaltensweisen und subjektiven Risikomerkmalen überwunden werden, wie aufgezeigt. Allerdings stellt sich mit ihr verstärkt das Problem der Plausibilisierung. Nach Auffassung der Aufsichtsbehörde, soweit verlautete, müssen die Versicherer auch stets in der Lage sein, die Logik der Algorithmen gemäß Artikel 13 Absatz 2 f DSGVO zu erklären und gegebenenfalls gewisse ethische und rechtliche Grundsätze zu überprüfen (zum Beispiel die Einhaltung des Verbots der Tarifierung nach Geschlecht und Nationalität).44 Noch scheint Skepsis angebracht, ob diese Anforderungen mit dem Einsatz künstlicher Intelligenz überhaupt vereinbar sind. Wird die Nutzung künstlicher Intelligenz vor diesem Hintergrund (aufsichts-)rechtlich eingeschränkt, stellt sich wiederum die Frage, ob deutsche Versicherungsunternehmen (und die deutsche Wirtschaft schlechthin) im internationalen und branchenübergreifenden Wettbewerb entscheidende Nachteile erleiden und ins Hintertreffen geraten. Schon heute sind die Entwicklungszentren für künstliche Intelligenz eher in den USA, China und Indien, aber nicht in Deutschland lokalisiert.

Auswirkungen auf das Versicherungskollektiv

Ziel des Einsatzes von Big Data und Artificial Intelligence in der Tarifierung von Versicherungsunternehmen ist also die Ermittlung einer Versicherungsprämie, die näher am individuellen Schadenerwartungswert des einzelnen Versicherungsnehmers bzw. Risikos liegt. Eine Prämie, die sich dem individuellen versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip annähert, kann auch als fairer bzw. leistungsgerechter empfunden werden.

Eine individuell versicherungstechnisch äquivalente Prämie wird sich naturgemäß für Versicherungsnehmer mit unterdurchschnittlich hohen Risiken als vorteilhaft und für Versicherungsnehmer mit überdurchschnittlich hohen Risiken als nachteilig erweisen – bei Letzteren insbesondere dann, wenn deren ungünstige Risikomerkmale nicht durch anderes Verhalten positiv beeinflusst werden können (zum Beispiel Gendispositionen in der Personenversicherung). Bei individuellen und verhaltensabhängigen Versicherungsprämien wird sich zunehmend die Frage stellen, welche Faktoren, Eigenschaften und Verhaltensweisen in die Tarifierung einbezogen werden dürfen und welche eher nicht.

Außerdem bleibt derzeit noch zu hinterfragen, ob die Zusammenhänge zwischen konkreten Verhaltensweisen und ihren Einflüssen auf die individuell erwarteten Schäden bereits hinreichend erforscht sind. Zum Beispiel ist noch näher zu untersuchen, wie genau sich das Geschwindigkeits-, Beschleunigungs- und Bremsverhalten in einem Kraftfahrzeug tatsächlich auf die Gefahrenpotenziale auswirken. Bei Pay-as-you-live-Tarifen ist etwa zu untersuchen, welche Lebensmittel für welche Personengruppen wirklich gesundheitsfördernd oder –schädigend sind oder welche Intensität und Dauer welcher Sportaktivitäten langfristig das körperliche und geistige Wohlergehen fördern oder stören – und das Ganze sowohl mit Blick auf die statistische Signifikanz als auch auf die Plausibilität. Falsche oder zumindest nicht weitestgehend treffende Schlussfolgerungen können zu einer ungerechtfertigten Benachteiligung bestimmter Versicherungsnehmergruppen führen.

Soweit die Tarifierung auf Basis von Big Data und Artificial Intelligence zu individuellen Prämien führt, ist der Risikoausgleich im Kollektiv allerdings grundsätzlich unbeschadet. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass bei Ermittlung einer Prämie nach dem individuellen versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip zwingend auch das kollektive versicherungstechnische Äquivalenzprinzip erfüllt ist, ist die kollektive Versicherungsprämie auch bei individueller Tarifierung auskömmlich genug, um die insgesamt erwarteten Schäden zu decken. Damit ist dem verbreiteten Missverständnis eindeutig entgegenzutreten, dass bei einer individualisierten Prämie der Kollektivgedanke und damit das Versicherungsprinzip nicht mehr erfüllt seien. Das Gegenteil – siehe oben – ist richtig: „Versicherung ist die Deckung eines im Einzelnen ungewissen, insgesamt geschätzten Mittelbedarfs auf der Grundlage des Risikoausgleichs im Kollektiv und in der Zeit“. Auch und gerade mit einer versicherungstechnisch richtig kalkulierten individuellen Versicherungsprämie funktioniert der Risikoausgleich im Kollektiv und wird Antiselektion vermieden. Risikotheoretisch wird damit zudem eine faire Prämie festgelegt. Ob diese Prämie auch in der allgemeinen Öffentlichkeit als fair im Sinne von gerecht beurteilt wird, ist eine andere Frage, die hier nicht zu erörtern ist.45

Ein signifikanter Vorteil durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz und damit verbundener Dunkelverarbeitung bei der Tarifierung von Versicherungsverträgen können die sinkenden Betriebs- und Verwaltungskosten sein. Wie bei allen Innovationen muss hier allerdings zuerst eine gewisse Amortisationszeit eingerechnet werden. Von sinkenden Kosten profitiert wiederum das gesamte Versicherungskollektiv, da sich die Kostenvorteile in geringeren Prämien widerspiegeln sollten.

Große Herausforderungen bei der Nutzung von Big Data und Artificial Intelligence liegen derzeit noch in der Einhaltung von Anforderungen des Datenschutzes. Insbesondere die DSGVO mit den Erfordernissen der Datenminimierung 46 gemäß Artikel 5 Absatz 1 c DSGVO, Speicherbegrenzung47 gemäß Artikel 5 Absatz 1 e DSGVO und Zweckbindung48 gemäß Artikel 5 Absatz 1 b DSGVO beschränken die faktischen Einsatzmöglichkeiten. Mangels bislang klar abgesteckter Regelungen besteht die Herausforderung in der Praxis derzeit schon allein darin, den rechtlich zulässigen Spielraum für die Nutzung von verfügbaren Daten und deren Analyse auszuloten.

Würdigung

Grundsätzlich kann durch den Einbezug von Big Data und mit Hilfe des Einsatzes künstlicher Intelligenz der Risikoausgleich im Kollektiv durch eine noch fundiertere Ermittlung individueller Risikoprämien verbessert werden. Zudem bestehen vielerlei Kostenoptimierungspotenziale, die zugunsten des Versicherungskollektivs gehen. Wichtig ist, dass der Individualisierungsgrad der Tarifierung Hand in Hand mit dem Tempo geht, in dem die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Technologien und der damit zusammenhängenden Geschäftsmodelle zunimmt.

Inwiefern der steigende Individualisierungsgrad den Solidargedanken gefährdet und insofern die Gerechtigkeitsempfindungen beim Verbraucherschutz, in der Politik und Öffentlichkeit stört, ist ausdrücklich keine Wesensfrage des Geschäftsmodells in der privaten Versicherungswirtschaft. Privatversicherung folgt nicht dem Solidarprinzip nach den Kriterien „Gesund für Krank, Reich für Arm, Stark für Schwach“, wie es im Kern für die Säulen des Sozialversicherungssystems gilt, sondern dem Prinzip des Risikoausgleich im Kollektiv.49 Nichtsdestotrotz müssen auch privatwirtschaftliche Versicherungsunternehmen die Erwartungshaltungen erfüllen, und bei nicht ausreichender Berücksichtigung von Solidarität in der Tarifkalkulation werden sie mit Kritik konfrontiert. Ein prominentes Beispiel ist die Debatte um die versicherungstechnisch richtigen, aber unbezahlbar hohen Versicherungsprämien in der Hebammenhaftpflichtversicherung.

Der Problematik hoher Prämienbelastungen bestimmter, überdurchschnittlich hoher Risiken im Versicherungskollektiv steht jedoch auch die Möglichkeit gegenüber, dass damit positive Steuerungswirkungen entfaltet werden. Soweit nämlich unerwünschte Verhaltensweisen der Versicherungsnehmer oder Versicherten das überhöhte Risiko begründen, führt die damit verbundene Versicherungsprämie möglicherweise dazu, solche Verhaltensweisen zu korrigieren oder einzustellen. Wenn zum Beispiel mit Hilfe von Big Data, künstlicher Intelligenz und Echtzeitverarbeitung einem Autofahrer bei Anzeichen von überhöhter Geschwindigkeit im Display seiner Armaturen ein signifikanter Prämienzuschlag angezeigt wird, könnte dies ad hoc zu einer Anpassung des Fahrverhaltens und auch auf Dauer zu erwünschten Verhaltensanpassungen führen. Derartige Konsequenzen stören vermutlich auch nicht den Solidargedanken, sondern stärken im Gegenteil die Verantwortung für das eigene Verhalten im Versicherungskollektiv und damit auch die versicherungstechnische Solidarität. Die Grenzziehung ist jedoch schwierig und liegt im Graubereich zwischen den verhaltensgesteuerten und schicksalhaften Merkmalen der Versicherungsnehmer und ihren versicherungstechnischen Risiken.

Zusammenfassung

Der Einbezug von Big Data und Artificial Intelligence kann insgesamt Vorteile mit sich bringen – sowohl für den Versicherer als auch für den Versicherungsnehmer. Im Wettbewerb um die Nutzung und Einsatzmöglichkeiten stehen die Versicherungsunternehmen allerdings unter anderem den Technologieriesen wie Amazon, Apple, Facebook und Google gegenüber, die zum einen viel geübter darin sind, Daten zu sammeln und zu verarbeiten, und bei denen zum anderen auch die gesellschaftliche Akzeptanz hierfür höher ist. Zudem erweisen sich die meist noch verteilten Datenbanken, die verbesserungswürdige Datenqualität und die vielfach veralteten IT-Systeme als Nachteile von Versicherungsunternehmen bei der Umsetzung der vielversprechenden und potenzialträchtigen Technologien. Die Versicherungsunternehmen werden gezwungen sein und sollten das Mögliche daransetzen, sich den Innovationen gegenüber zu öffnen und sie zu ihren Vorteilen auszuschöpfen. Dabei den Gleichschritt mit den rechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere dem Datenschutz, ferner mit den ökonomischen Möglichkeiten (Investitionskosten!) und nicht zuletzt mit der gesellschaftlichen Akzeptanz zu halten, wird nicht einfach.

Eine Herausforderung wird auch darin bestehen, ein tiefergehendes Vertrauen beim Kunden zu schaffen und Souveränität im Umgang mit den Daten zu beweisen. Die Generierung echter und für den Kunden spürbarer Mehrwerte wird weiter in den Vordergrund rücken, damit es sich für den Kunden lohnt, Daten über subjektive Merkmale preiszugeben.

Der vorliegende Beitrag hat sich – seinem Titel folgend – auf die Auswirkungen von Big Data und Artificial Intelligence auf das Versicherungskollektiv konzentriert und darauf weitgehend beschränkt. Ausgeblendet wurden weitere vielversprechende Einsatzmöglichkeiten im Versicherungsunternehmen, wie beispielsweise bei der Betrugserkennung, generell im Schadenmanagement, darüber hinaus bei der gesamten Prozessoptimierung und zudem für die Generierung kundenzentrierter Mehrwertleistungen über den reinen Versicherungsschutz hinaus. Diese Aspekte eröffnen zusätzliche, vermutlich sogar erheblich größere und entscheidende Zukunftspotenziale – mehr noch: sie dürften für die einzelnen Versicherungsunternehmen überlebenswichtig sein.

Autoren

Prof. Dr. Fred Wagner
Kristina Zentner, M.Sc.
beide Institut für Versicherungslehre, Universität Leipzig

Fußnoten

  1. 1 Farny: Versicherungsbetriebslehre, 5. Aufl. 2011, Seite 8.
  2. 2 Schmidt: Versicherungsmathematik, 3. Aufl. 2009, Seite 292 f. oder Kamps, in: Roberts/Mosena/Winter (Hrsg.), Gabler Wirtschaftslexikon,17. Aufl. 2010, Seite 2886.
  3. 3 Albrecht, in: Wagner (Hrsg.), Gabler Versicherungslexikon, 2. Aufl., Seite 364.
  4. 4 Siehe hierfür Andersch, in: Wagner (Hrsg.), Gabler Versicherungslexikon, 2. Aufl. 2017, Seite 962 f.
  5. 5 Vgl. Albrecht, in: Wagner (Hrsg.), Gabler Versicherungslexikon, 2. Aufl. 2017, Seite 754.
  6. 6 Nicht in allen Versicherungsgeschäften werden Gefahren im Sinne negativer realer Ereignisse versichert. Es gibt auch die Fälle von Versicherungen sehr erwünschter Ereignisse, wie die Langlebigkeit, die allerdings ebenfalls Mittelbedarfe mit sich bringen – im genannten Beispiel etwa zur Finanzierungen des weiteren Lebensunterhalts. Der wirtschaftliche Schaden ist in diesem Fall die Finanzierungslücke, die ohne eine Deckung des Mittelbedarfs durch Versicherungsleistungen entstehen würde. Zur Vereinfachung wird im Folgenden aber durchweg von (versicherten) Schäden und Schadenfällen gesprochen.
  7. 7 Wagner/Elert/Luo, in: Wagner (Hrsg.), Gabler Versicherungslexikon, 2. Aufl. 2017, Seite 985.
  8. 8 Weiterführende Literatur zu den Phänomenen von Informationsasymmetrien, siehe Akerlof, The Market for "Lemons": Quality Uncertainty and the Market Mechanism, The Quarterly Journal of Economics, 3/1970, pp. 488 et seq.
  9. 9 Vgl. hierzu Beckmann/Schirmer, in Wagner (Hrsg.), Versicherungslexikon, 2. Aufl., 2017, Seite 621.
  10. 10 Vgl. Schmidt, in: Wagner (Hrsg.), Gabler Versicherungslexikon, 2. Aufl. 2017, Seite 1036.
  11. 11 Vgl. Farny, Versicherungsbetriebslehre, 5. Aufl. 2011, Seite 82 f.
  12. 12 Vgl. ebenda.
  13. 13 Vgl. Albrecht, a.a.O, (Fn. 3), Seite 1094.
  14. 14 Vgl. Albrecht, a.a.O, (Fn. 3), Seite 37 f.
  15. 15 Vgl. ebenda, Seite 469 f.
  16. 16 Im Weiteren wird ohne Betriebskosten, Kapitalkosten und Sparanteile argumentiert.
  17. 17 Vgl. auch Albrecht, a.a.O, (Fn. 3), Seite 1021 f.
  18. 18 Vgl. Albrecht, in: Wagner (Hrsg.), Gabler Versicherungslexikon, 2. Aufl. 2017, Seite 822.
  19. 19 Vgl. Farny, a.a.O. (Fn. 1), Seite 31 f.
  20. 20 Vgl. ebenda.
  21. 21 Unbenommen bleibt dabei, dass auch die objektiven Risikomerkmale teils hohe Relevanz besitzen. So beeinflusst die Typklasse des Kfz über dessen Ausstattungsmerkmale (z.B. Assistenzsysteme) auch unmittelbar die Eintrittswahrscheinlichkeit von Unfällen, die der Fahrer zu verantworten hat.
  22. 22 Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/213441/digitalisierung-und-schule, abgerufen am 3.12.2018.
  23. 23 Vgl. Hofer, a.a.O (Fn. 3), Seite 228 f.
  24. 24 Vgl. Hofer, a.a.O (Fn. 3), Seite 157.
  25. 25 Vgl. https://www.ibmbigdatahub.com/infographic/four-vs-big-data, abgerufen am 3.12.2018.
  26. 26 1 Zetabyte entsprechen ca. 1021 Byte.
  27. 27 Siehe hierzu eine Studie von Statista GmbH, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/267974/umfrage/prognose-zum-weltweit-generierten-datenvolumen/, abgerufen am 3.12.2018.
  28. 28 Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet, Big Data, 2016, Seite 26.
  29. 29 Fasel/Meier, Big Data – Grundlagen, Systeme und Nutzungspotenziale, 2016, Seite 6.
  30. 30 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung).
  31. 31 Seufert, in: Fasel/Meier, a.a.O. (Fn. 28), Seite 52.
  32. 32 Termer, F. (2018): Open Data bringt Mehrwert für Unternehmen, https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Open-Data-bringt-Mehrwert-fuer-Unternehmen.html, abgerufen am 03.12.2018.
  33. 33 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Open Data: Mit öffentlichen Daten digitale Wirtschaft fördern, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Digitale-Welt/open-data.html, abgerufen am 03.12.2018.
  34. 34 Vgl. GDV, Positionen. Den Fahrer im Blick, http://positionen.gdv.de/den-fahrer-im-blick/, abgerufen am 3.12.2018.
  35. 35 Vgl. OECD Digital Economy Papers, Consumer Policy and the smart home, 2018, Nr. 268, URL: https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/e124c34a-en.pdf?expires=1543255258&id=id&accname=guest&checksum=FFC7F6B9DB075CE596466A4198B8CDD4, abgerufen am 3.12.2018.
  36. 36 Weiterführend ist das Positionspapier des GdV zu den Anforderungen an Smart Home Installationen sowie Geräten des „Internet der Dinge“ vom 29.5.2017, https://www.gdv.de/resource/blob/8254/346747549f0b20cd6a28b6a806a04152/anforderungen-smart-home-iot--900514353-data.pdf, abgerufen am 03.12.2018.
  37. 37 Sternberg, Advances in the psychology of Human influence, 5. Aufl., 1989, pp. 91 et seq.
  38. 38 https://www.britannica.com/technology/artificial-intelligence, abgerufen am 3.12.2018.
  39. 39 Buxmann/Schmidt (Hrsg.), Künstliche Intelligenz – Mit Algorithmen zum wirtschaftlichen Erfolg, Seite 40.
  40. 40 National Science and Technology Council, 2016, https://obamawhitehouse.archives.gov/sites/default/files/whitehouse_files/microsites/ostp/NSTC/preparing_for_the_future_of_ai.pdf, abgerufen am 3.12.2018.
  41. 41 Machine Learning (zu Deutsch: Maschinelles Lernen) bedeutet, dass Maschinen trainiert werden, bestimmte Aufgaben auf Basis von Erfahrungen zu lösen. Vgl. Buxmann/Schmidt (Hrsg.), Künstliche Intelligenz – Mit Algorithmen zum wirtschaftlichen Erfolg.
  42. 42 Ertel, Grundkurs Künstliche Intelligenz, 4. Aufl., 2016.
  43. 43 https://www.bigdata-insider.de/was-ist-deep-learning-a-603129/, abgerufen am 03.12.2018.
  44. 44 Vgl. Dr. Frank Grund, Rede vom 13. November 2018, "Neue Herausforderungen für Aufsicht und Branche", abgerufen am 3.12.2018.
  45. 45 Siehe dazu näher Wagner, Geschäft oder Gewissen? Vom Auszug der Versicherung aus der Solidargemeinschaft, 2017.
  46. 46 Die erhobenen Daten müssen auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein.
  47. 47 Die Identifizierung der jeweiligen Person darf nur solange möglich sein, wie es für den Zweck der Datenerhebung notwendig ist.
  48. 48 Personenbezogene Daten müssen für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und dürfen nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden.
  49. 49 Siehe dazu Wagner, Geschäft oder Gewissen? Vom Auszug der Versicherung aus der Solidargemeinschaft, 2017.

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