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Abbildung des Covers und eines aufgeschlagenen Exemplars der ersten Ausgabe der BaFinPerspektiven im Jahr 2019 © BaFin / www.freepik.com

Erscheinung:28.02.2019 | Thema Fintech Ein Bericht aus dem Maschinenraum der Veränderung

Unterwegs in die digitale Versicherungswelt

Das Geschäft von Versicherern wird sich grundlegend verändern. Der Vorsitzende der Geschäftsführung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), Dr. Jörg von Fürstenwerth, analysiert die sieben möglichen Megatrends und deren Veränderungspotenzial.

Einleitung

Die vorherrschende Meinung kommt dieser Tage nicht ohne die These aus, dass Unternehmen in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen nur dann zu einem zukunftsfähigen Geschäftsmodell finden, wenn sie in jeder Hinsicht agil sind. Agilität ist zu einem der Leitbegriffe des digitalen Diskurses geworden. Nur agile Unternehmen seien in der Lage, eine angemessene Antwort auf die Disruption ihrer Geschäftsmodelle zu finden. Versicherungsunternehmen scheinen nach landläufiger Ansicht sogar vor ganz besonders hohen Hürden zu stehen, haben sie doch nicht gerade den Ruf, an der Spitze der Veränderung zu marschieren. Nicht ganz zu Recht. Deswegen soll an dieser Stelle ein etwas genauerer Blick in den Maschinen-raum der Veränderung gewährt werden.

Der allerdings mit einem Blick über den Tellerrand beginnt: Denn wenn es in jüngster Zeit ein Symbol für die Dynamik der Veränderung von Geschäftsmodellen und Märkten gegeben hat, dann steht dafür der Name Cebit. Das Konzept der Messe hat der Dynamik der Digitalisierung nicht mehr standgehalten. Die Cebit ist Geschichte – und ein mahnendes Beispiel dafür, das Tempo des Wandels nicht zu unterschätzen.1

Die Zeichen der Zeit müssen schnell erkannt und analysiert, Handlungsfelder abgesteckt und die notwendigen, mitunter bitteren Maßnahmen mit Agilität und vor allem mit Mut umgesetzt werden. Beispielhaft zeigt sich das am Wettlauf um die Vorherrschaft bei Künstlicher Intelligenz (KI). KI gilt vielen heute als wichtigste Technologie seit der Dampfmaschine.2 Auch wenn an ihr und den notwendigen Algorithmen bereits seit 70 Jahren geforscht wird, bieten erst heute die Rechenleistungen moderner Computersysteme die Möglichkeiten, die Techno-logie voll auszuschöpfen – mit Blick auf den Horizont wäre hier der Quantencomputer zu nennen. Um auf dem globalen Zukunftsmarkt nicht den Anschluss zu verlieren, haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) Milliarden Euro mobilisiert. Der Plan der EU-Kommission sieht Maßnahmen in vier Schlüsselbereichen vor: „Steigerung der Investitionen, Verfügbarkeit von mehr Daten, Förderung von Talenten und Vertrauensbildung.“3

Schon im November 2018 hatte die Bundesregierung ihre KI-Strategie veröffentlicht. Dem-nach sollen 100 neue Professuren für KI geschaffen und bis zum Jahr 2025 etwa drei Milliarden Euro bereitgestellt werden. Forschung ist allerdings nicht alles, gilt es doch die Ergebnisse im internationalen Wettbewerb auch in tragfähige, möglicherweise grundlegend neue und damit disruptive Geschäftsmodelle und neue Lösungen für Wirtschaft und Gesellschaft zu transferieren. Und KI ist dabei nur einer von vielen digitalen Trends, die die Ökonomie mit wachsender Dynamik von links auf rechts krempeln, alte Märkte auf den Kopf stellen und völlig neue entstehen lassen könnten – und natürlich macht die Versicherungswirtschaft hier keine Ausnahme.

Aktuell lassen sich sieben Megatrends erkennen, die das Potenzial haben, das Geschäft von Versicherern nachhaltig zu verändern – gleichermaßen behaftet mit Chance und Risiko:

  • Der Kampf um den Kontakt zum Kunden
  • Neue Technologien: Künstliche Intelligenz, Cloud und Blockchain
  • Die kreative Zerstörung, neue Geschäftsmodelle und Produkte
  • Die Prozess-Revolution
  • Neue Wettbewerber, mehr Anbietervielfalt
  • Der Wettstreit um Talente
  • Eine agile Aufsicht

Der Kampf um den Kontakt zum Kunden

Verbraucher sind verschieden

Die Finanz- und Staatsschuldenkrise nach 2008 war ein wichtiger Hebel für ein grundsätzlich erneuertes Verbraucherbild4, noch nie stand Verbraucherschutz höher im Kurs als heute. Die Versicherer nehmen die Herausforderung an und begreifen die Digitalisierung dabei als große Chance: Sie folgen dem erneuerten, differenzierten Verbraucherleitbild und setzen darauf, die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kunden besser zu erfüllen. Die Digitalisierung beschert unserer Branche neue Möglichkeiten, anders, individuell und intensiver als je zuvor mit den Kunden in Kontakt zu treten.

Das Web verstärkt den Wettbewerb – allerdings nicht zwingend die Transparenz

Das Web überflutet Kunden mit Daten und saugt sie gleichzeitig bei ihnen ab. Neuigkeiten über digitale Tools, wie Sprachassistenten, Chatbots, Roboadviser und Apps dominieren die Berichterstattung. Manche Kunden vertrauen diesen Tools sogar schon mehr als Menschen. Fakt ist, dass immer mehr Verbraucher Informations- und Vergleichsplattformen suchen. Auch die Versicherer gehen dorthin, wo sich die Kunden aufhalten. Deshalb werden branchenübergreifende Kooperationen beim Vertrieb von Versicherungsschutz zunehmen. Auch predictive analytics, das Erstellen von Vorhersagen anhand von Daten, werden – über kurz oder lang – eine Rolle im Vertrieb von Finanzdienstleistungen spielen. Im Vergleich zu traditionellen Vermittlern können sie den Bedarf der Kunden nach Versicherungsschutz oft schneller erkennen oder gezielter wecken und auch komfortabel bedienen. Der Wettbewerbsdruck wird dadurch steigen – die Transparenz im Markt allerdings nicht zwingend, denn Altruismus ist auch im World Wide Web die Ausnahme. Vergleichsportale zum Beispiel erwecken zumeist zwar den Anschein, sie sind aber nicht uneigennützig. Sie verfolgen ein klares Geschäftsinteresse und decken normalerweise nicht den gesamten Markt ab. Das sollte sich jeder, der diese Portale nutzt, klarmachen. Und das sollte deshalb auch deutlich erkennbar sein.

Vernetzung digitaler Kommunikation und persönlicher Beratung

Viele Kunden kaufen Versicherungsschutz im Internet. Andere nehmen stattdessen – online vorinformiert – persönlich Kontakt zu einem Vermittler ihres Vertrauens auf. Wieder andere informieren sich analog und kaufen online. Die Customer Journey ist individuell, situativ und vor allem flexibel.5 Die Präferenz für Digitales ist längst keine Frage des Alters der Kunden mehr. Die effiziente Integration von digitaler Kommunikation und persönlicher Beratung ist ein Muss für jeden im Vertrieb und die große Chance, sich im Wettbewerb um den Kunden zu profilieren. Denn die persönliche Beratung ist für viele Menschen und in vielen Bereichen nach wie vor unverzichtbar. Dann zählen die persönliche Beziehung zum Kunden sowie Qualifikation und Professionalität. Empathie, Erreichbarkeit, Bequemlichkeit, Prozessgeschwindigkeit und Vernetzung gehören zusammen. Effizienter Datenfluss ist unverzichtbar. Das lässt die herkömmliche Differenzierung nach Vertrieb, Betrieb, Schaden und Leistung aus Sicht des Kunden verschwimmen.

Papier ist geduldig… und bleibt uns erhalten

Um die Dynamik bestmöglich nutzen zu können, gilt es, alle Prozesse im Unternehmen – von der Antragstellung bis zur Schadenregulierung – elektronisch abbilden zu können. Aber es ist schwer, vom Papier loszukommen. Die EU-Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD (Insurance Distribution Directive) sieht den Papierversand von Dokumenten als Standardfall vor, von dem nur unter bestimmten Umständen abgewichen werden darf. Oft ernten Versicherer aber absolutes Unverständnis, wenn sie Briefe an ihre Kunden schicken – schon allein wegen des Zeitverzugs (fairerweise sei aber auch erwähnt, dass es vielen Kunden nach wie vor wichtig ist, ein Stück Papier in der Hand zu halten).

Gleiche Regeln für alle

Im Wettbewerb um den Kunden muss gelten: gleiche Regeln für alle. Das gilt für die etablierten Anbieter in unserer Branche ebenso wie für neue. Seit Februar 2018 gibt es für den Versicherungsvertrieb ein neues Regelwerk, die schon erwähnte IDD. Diese EU-Richtlinie ist vom Gesetzgeber umgesetzt – nun müssen sich auch alle Marktteilnehmer an diese Regeln halten. Denn nicht alles, was digital daherkommt, geschieht zum Vorteil des Kunden. Die EU-Kommission plant jedenfalls eine Verordnung zur Förderung von Fairness und Transparenz für gewerbliche Nutzer von Online-Vermittlungsdiensten. Hier geht es auch darum, mehr Transparenz in Kriterien zu bringen, die für Rankinglisten als Ergebnis von Suchanfragen gelten. So soll Willkür beim Auslisten von Anbietern verhindert werden. Auch das Bundeskartellamt hat sich in einer Sektoruntersuchung mit Vergleichsplattformen auseinandergesetzt.6

Verbraucher sollen frei wählen können

Verbraucher haben in Deutschland die Wahl zwischen verschiedenen Zugangswegen zum Versicherungsschutz. Sie können direkt beim Versicherer abschließen. Sie können aber – und das tun die meisten – auch einen Versicherungsvermittler einschalten, der mit Provision vergütet wird. Oder sie entscheiden sich für einen Versicherungsberater, der auf Honorarbasis arbeitet. Die Koexistenz dieser Möglichkeiten ist ein wichtiges Gut. Kein Vergütungssystem sollte diskriminiert werden.

Mit der Digitalisierung geht eine neue Vielfalt einher. Das ist die eigentliche unternehmerische Herausforderung. Denn einerseits ist ein klarer Trend zur Standardisierung erkennbar. Gleichzeitig zeigt sich aber auch ein Trend zu immer maßgeschneiderteren Lösungen. Die Digitalisierung macht beides möglich und beides immer besser. Es scheint insofern paradox, ist aber Realität und dürfte Wirklichkeit bleiben: Das persönliche Gespräch wird gerade in dieser Welt der Vielfalt eine wichtige Rolle sowohl beim Abschluss von Versicherungen als auch beim Aufbau und vor allem dem Erhalten einer guten Beziehung zum Kunden spielen.

Neue Technologien: Künstliche Intelligenz, Cloud und Blockchain

Technologiesprünge eröffnen Chancen für die Versicherungswirtschaft

An dieser Stelle soll vor allem von den Chancen geredet werden: Der technische Fortschritt bietet vielfältige Möglichkeiten, die Bereitstellung von Versicherungsprodukten zu verbessern. Alle Teile der Wertschöpfungskette sind betroffen. Die Potenziale sind reichhaltig, zusätzliche Datenquellen stehen zur Verfügung, es gibt neue Analysemethoden für Risikobewertung und Tarifierung, die Automatisierung von Geschäftsprozessen ist in vollem Gang, junge Köpfe prägen per Start-up-Kultur neuartige Marketing- und Vertriebsstrategien. Dies alles befeuert einen intensiven Innovationswettbewerb, dessen Ziel es ist, effiziente und kostengünstige Prozesse, bessere Produktlösungen sowie Services und möglichst optimierte Kundenzugänge bereitzustellen.

Schlüsselbereiche von KI sind Prozessautomatisierung, Risikoanalyse und Kundenkontakt

Die Versicherungswirtschaft eignet sich ganz besonders für den Einsatz von KI, da hier große Datenmengen verarbeitet werden und die Prozesse in Teilen von Wiederholungen, aber auch semantischen Besonderheiten geprägt sind. Absehbar wird KI in drei Schlüsselbereichen eine wesentliche Rolle spielen: Erstens wird KI zur Automatisierung der Versicherungsprozesse beitragen. Zweitens wird KI einen wertvollen Beitrag bei der Risikoanalyse leisten. Drittens wird KI den Kundenkontakt effizienter gestalten.

Schon heute hilft KI: Kunden erhalten ihre Versicherungsleistung nicht innerhalb von Tagen, sondern binnen Stunden. Roboadvice und Sprachassistenten sind für die Kunden rund um die Uhr mit hoher Beratungsqualität verfügbar.7 Schäden können reduziert oder gar verhindert werden, indem zum Beispiel Wetterdaten rechtzeitig mit Unwetterwarnungen an Kunden gesendet werden. Durch Datenverknüpfung können Versicherer ihre Kunden in neuen Lebenssituationen, etwa Heirat und Geburt, noch besser auf Doppel-Versicherungen oder Versicherungslücken hinweisen. Adressänderungen oder die Archivierung von bearbeiteten Versicherungsfällen lassen sich von intelligenten Systemen im Hintergrund abwickeln, was die Verwaltungskosten reduziert und damit auch dem Kunden Geld spart.

Neben der Optimierung des Versicherungsprozesses und der Schadenregulierung wird KI auch die Datenverarbeitung und Analytik verbessern – angesichts der Datenmengen, die etwa durch das Internet der Dinge (IoT) verfügbar werden, ist das ein enormer Fortschritt. Im Ergebnis steigt das Risikoverständnis bei den Kunden, und Versicherer können schneller innovative und maßgeschneiderte Leistungen bieten.

Cloud-Computing in der Versicherungswirtschaft auf dem Vormarsch

Das Cloud-Computing macht weiterhin große Fortschritte, hieraus ergeben sich interessante Möglichkeiten für Optimierungs- und Kostenreduktionsprogramme. Cloud-Dienstleister bieten verschiedene Servicemodelle: Eine Servicestufe ist die Infrastructure as a Service (IaaS) und bedeutet, dass in einem externen Rechenzentrum virtualisierte Computerhardware wie Rechner, Speicher und Netzwerke genutzt werden. Eine weitere ist die Platform as a Service (PaaS) und damit die Cloud als Entwicklungsumgebung. Mit PaaS entwickeln Nutzer eigene Softwareanwendungen oder testen sie in einer vom Cloud-Provider bereitgestellten Umgebung. Bei Software as a Service (SaaS) wird die Anwendung selbst aus der Cloud bezogen. Alle drei Varianten sowie etwaige Unterkategorien müssen den Unternehmen unter Wahrung eines hohen Sicherheitslevels im ordentlichen Geschäftsverkehr zugänglich sein – wollen sie im internationalen Wettbewerb bestehen.

Blockchain bietet großes Potenzial im E-Government-Bereich

Das Interesse an der Blockchain-Technologie hält – wenn auch aus veränderten Blickwinkeln – unvermindert an. Nach anfänglichem Hype an den Märkten, insbesondere ausgelöst durch den Aufstieg der Kryptowährung Bitcoin, geht es nun vermehrt um konkrete Anwendungen und die erforderliche Anpassung des Rechtsrahmens. Denn Blockchain ist die Technologie und Bitcoin nur eine mögliche Anwendung.

Gerade für die Versicherungswirtschaft hat die Distributed Ledger Technologie (DLT) erhebliches Potenzial – dies immer dann, wenn eine Reihe von Partnern über einen längeren Zeit-raum zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein berechtigtes Interesse an der lückenlosen und verbindlichen Historie einer Sache oder Person hat und dies nachweisen kann. Zu nennen wären hier beispielsweise der bauliche Zustand eines Hauses und die Gebäudeversicherung oder der Kilometerstand eines Autos und die Kraftfahrtversicherung, aber auch der über vielleicht einige Jahrzehnte laufende Rentenversicherungsvertrag wie bei der Riester-Rente. Denn gerade im E-Government-Bereich bietet die Blockchain die Möglichkeit, private und staatliche Stellen wie Grundbuchämter, Zulassungsstellen und die Zulagenstelle für Alters-vermögen kosteneffizient, verbindlich und sicher zu vernetzen. Mit entsprechend intelligent gebauten Blockchain-Lösungen würden sich die Vertrags- und Bestandssysteme bei allen beteiligten Partnern smarter und die Prozessketten einfacher gestalten lassen.

Moderner Rechtsrahmen zur Anwendung neuer Technologien im globalen Wettbewerb

Damit die Chancen der digitalen Technologien genutzt werden können, kommt es auf einen modernen Regulierungs- und Aufsichtsrahmen an. Regulierung muss innovationsfreundlich sein. Dazu gehören Technologieneutralität, Prinzipien- und Risikobasierung und der Verzicht auf übermäßige Vorgaben.

So kommt es immer wieder zu der Forderung nach einem Algorithmen-TÜV. Von Seiten des Verbraucherschutzes wird bemängelt, dass die Entscheidungen etwa einer einfachen KI nicht nachvollziehbar und intransparent seien, quasi eine Blackbox. Bereits heute besteht für Kunden – im Falle einer negativen oder ablehnenden Entscheidung durch ein vollautomatisiertes System – die Möglichkeit, die Kriterien zu erfahren und eine manuelle Nachprüfung einzufordern. Die Forderung nach einem Algorithmen-TÜV mag auch deshalb verwundern, da die Nutzung von Algorithmen in der Versicherungswirtschaft grundsätzlich nicht neu ist. Innovativ ist heute der Einsatz von teil- und vollautomatisierten Prozessketten, bei denen auch KI zum Einsatz kommt. Mit diesen können beispielweise Adressänderungen oder Archivierungsvorgänge zentral über intelligente Systeme gesteuert werden.

Bei aller Euphorie ist ein verantwortungsvoller Umgang mit der KI-Technologie angezeigt. Insofern ist es wichtig, dass sich alle Player zu einem breiten gesellschaftlichen Dialog über die Verwendung von KI bekennen. Hierbei ist darauf zu achten, dass die Interessen sowohl der betroffenen Verbraucher als auch der Unternehmen angemessen berücksichtigt werden. Gleichwohl darf die Nutzung neuer Technologien nicht mit übereilten Rufen nach Regulierung gebremst werden. Eine auf die nationale Ebene beschränkte Regulierung könnte überdies zu Nachteilen für deutsche Unternehmen im internationalen Wettbewerb führen.

Blockchain: Der Staat ist gefordert

In einem Sondierungsprojekt haben die Versicherer unter dem Dach des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) geeignete Einsatzszenarien für die Blockchain lokalisiert und analysiert. Ein wesentliches Ergebnis: Damit sich die Blockchain durchsetzen kann, ist auch der Staat gefordert. Denn noch ist unsicher, wie sich die möglichen Blockchain-Anwendungsfälle mit dem geltenden Rechtsrahmen vereinbaren lassen. In der gerade mit viel Aufwand in Europa verankerten Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) steht das „Recht auf Vergessenwerden“ der grundsätzlichen technischen Konstruktion der Blockchain entgegen. Darüber hinaus darf es bei Blockchain-Lösungen im Versicherungsbereich keine Rechtsunsicherheit bezüglich der Anerkennung von Transaktionen und Identitäten geben.

Kreative Zerstörung: neue Geschäftsmodelle und Produkte

Ein Paradebeispiel für die Umwälzungen, die in Technik, in Gesellschaft, aber natürlich auch in Politik und Wirtschaft bevorstehen, ist die Revolution der Mobilität. Die Versicherungsbranche widmet sich dem Thema intensiv, es geht sie natürlich auch ökonomisch (Kfz-Versicherung) unmittelbar an. Im November 2018 hat der Verband über Realität und Vision auf einem Kongress in Berlin intensiv debattiert. Den Grundstein für den Einsatz von automatisierten Fahrsystemen hat dabei die Bundesregierung mit der Reform des Straßenverkehrs-gesetzes im Jahr 2017 gelegt. Das Land, in dem das Auto erfunden wurde, müsse den Anspruch haben, auch beim autonomen Fahren an der Spitze zu stehen, betonte dazu ein Vertreter der Bundesregierung im Rahmen des Kongresses.

Digitale Transformation im Straßenverkehr

Tatsächlich arbeiten fast alle Autohersteller intensiv an Lösungen, die Fahraufgaben ohne Eingriffe des Fahrers bewältigen können. Blickt man in die Zukunft des assistierten, automatisierten und in der letzten Evolutionsstufe, des autonomen Fahrens, könnte man zu dem Schluss kommen: Viele Versicherungen werden eines Tages überflüssig – etwa wenn eine fehlerfreie Technik den ersehnten unfallfreien Verkehr beschert. Aus der „Vision Zero“ – keine Toten und Schwerverletzten im Straßenverkehr – würde Realität. Tatsächlich?

Vor diesem Hintergrund hat der GDV eine interdisziplinäre Projektgruppe aus Ingenieuren, Mathematikern, Versicherungsexperten und Unfallforschern gebildet. Sie sollten ein ebenso realistisches wie fundiertes Bild der zu erwartenden Auswirkungen des assistierten und automatisierten Fahrens erarbeiten. Die eingehende Analyse der Experten und die daraus abgeleitete Prognose für den Einfluss auf die Schadenentwicklung bis ins Jahr 2035 zeigen:

Moderne Fahrerassistenzsysteme und automatisierte Fahrfunktionen

  • machen Autofahren sicherer, verhindern in der Praxis aber deutlich weniger Schäden als in der Theorie,
  • setzen sich nur mit starker Verzögerung durch und senken die Schäden daher nur langsam,
  • führen im Schadenfall zu höheren Reparaturkosten und
  • wirken sich auf Kfz-Haftpflichtschäden stärker aus als auf Kaskoschäden.

Die Studie des GDV belegt: Bis 2035 werden die Entschädigungsleistungen der Kfz-Versicherer durch die neuen Systeme nur um sieben bis maximal 15 Prozent sinken.8 Die neue Technik, die längst noch nicht perfekt ist, macht Reparaturen teurer, verhindert in der Praxis weniger Schäden als erhofft und gerät bei Steinschlag, Hagel oder Marderbissen an ihre Grenzen. Auch in digitalen Zeiten bleibt Versicherungsschutz also unverzichtbar.

Das intelligente Haus wird selbst zum Risiko

Dasselbe gilt für das smarte Eigenheim und die zunehmende Nutzung von intelligenten Geräten im Haushalt: Wenn man den Versprechungen der Hersteller glaubt, gehören im intelligenten Haus Schäden der Vergangenheit an, haben Einbrecher keine Chance mehr und der Kühlschrank füllt sich von selbst. Nichts davon ist zumindest derzeit auch nur annähernd Realität.

Für die Einordnung hilft ein Blick über den Tellerrand: Bevor die vermeintlich neue Technik in unseren Wohnungen Einzug gehalten hat, wurden praktisch alle Komponenten im industriell/gewerblichen Bereich eingesetzt. Beispiele: Gebäudeüberwachung mit Kameras und Bewegungserkennung, elektronische Schlösser, Brandmeldeanlagen, Leckage-Sensoren. Sie haben geholfen, die Schadenlast bei immer höheren Sachwerten im Griff zu halten. Die Welt gänzlich von Schäden zu befreien, ist auch ihnen aber nicht gelungen. Und das, obwohl diese Komponenten für ein anspruchsvolles Arbeitsumfeld entworfen wurden und entsprechend teuer in Anschaffung und Wartung über den Lebenszyklus hinweg sind. Versicherung überflüssig? Wohl eher nicht.

Und damit nicht genug: Die moderne Technik dient leider allzu oft als Einfallstor für zusätzliche Gefahren. Denn schon die Cybersicherheit vieler Produkte für den privaten Anwender ist höchst fragwürdig. Kurze Lebenszyklen der Geräte, fehlende Updates, Backdoor-Zugänge – die Liste der problembehafteten Komponenten ließe sich beliebig fortsetzen.

Dies hat Auswirkungen für die Käufer unsicherer Produkte und für Dritte. Der Einbrecher des 21. Jahrhunderts muss sich nicht mehr hinter Büschen verstecken und das Haus ausspähen; es genügt der Zugriff auf die gehackte Überwachungskamera, die praktischerweise auch den PIN-Code des smarten Türschlosses aufgezeichnet hat. Und während man sich über den Komfort der intelligenten Rollladensteuerung freut, greift diese unbemerkt als Teil eines Bot-netzes den eigenen Arbeitgeber an. Spätestens am Beispiel des Mirai-Botnetzes9 sollte jedem deutlich geworden sein, wie leicht sich Internet of Things (IoT)-Geräte als Angriffsvehikel nutzen lassen – beispielsweise für Distributed Denial of Service Attacken (DDoS)-Attacken.10

Gefahren erkennen und eingrenzen

Natürlich können in der Verbindung von intelligenter und sicherer Haustechnik mit Konzepten der Wohngebäude- bzw. Hausratversicherung große Chancen liegen. Schäden wie austretendes Leitungswasser können früher erkannt und eingedämmt werden, zum Beispiel durch das automatische Schließen des Hauptwasserhahns. Entsprechende Produktentwicklungen der Versicherer werden intensiv vorangetrieben. Das Problem dabei: Weder für Verbraucher noch für Versicherer ist derzeit klar erkennbar, welche Geräte in Bezug auf Sicherheit und Support empfehlenswert sind. Niemand hat einen Überblick, welche Geräte einen Nutzen im Sinne eines Sicherheitsgewinns mit sich bringen und welche nicht.

Daher hat die Versicherungswirtschaft an die Gerätekategorie Smart Home beziehungsweise Internet der Dinge bereits im Jahr 2017 konkrete Anforderungen gestellt.11 Wenn die Risiken dieser Geräte auf Dauer tragbar sein sollen, müssen sich Produkt- und Supportphilosophie der Hersteller grundlegend ändern. Andernfalls steuern wir vor dem Hintergrund des exponenziellen Zuwachses intelligenter und vernetzter Geräte auf einen Sicherheits-GAU sonder-gleichen zu. Allein in den nächsten zwei Jahren wird sich die Zahl dieser Geräte verdoppeln – auf dann weltweit etwa 20 Milliarden Stück (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Internet der Dinge - über 20 Milliarden installierte Geräte im Jahr 2020

Abbildung 1: Internet der Dinge - über 20 Milliarden installierte Geräte im Jahr 2020 Gartner Inc. 2017, „Gartner Says 8.4 Billion Connected "Things" Will Be in Use in 2017, Up 31 Percent From 2016”, https://www.gartner.com/en/newsroom/press-releases/2017-02-07-gartner-says-8-billion-connected-things-will-be-in-use-in-2017-up-31-percent-from-2016# (abgerufen am 5. Dezember 2018) Abbildung 1: Internet der Dinge - über 20 Milliarden installierte Geräte im Jahr 2020

Die Versicherungswirtschaft begrüßt daher ausdrücklich die Veröffentlichung der Technischen Richtlinie „Secure Broadband Router“ (TR-03148)12 durch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Denn der Breitband-Router ist die zentrale Sicherheitsinstanz in allen Privathaushalten. Wird der Router kompromittiert, stehen Smart Home und Daten des Betroffenen Cyberkriminellen offen. Ein wichtiges Ziel der Technischen Richtlinie ist es, die Sicherheitseigenschaften für alle Anwender – damit auch die Versicherer – transparent zu machen. Dies können Hersteller durch eine geeignete Kennzeichnung am Gerät unterstützen. Die Technische Richtlinie ist daher ein wichtiger Schritt in Richtung eines IT-Sicherheitskennzeichens, wie es die Bundesregierung in der Cyber-Sicherheitsstrategie von 2016 und im Koalitionsvertrag vorgesehen hat. Die Versicherungswirtschaft unterstützt die Planungen des BSI, auch für weitere Geräte des Internets der Dinge und des Smart Homes Mindestanforderungen an deren IT-Sicherheit zu formulieren.

Neue Produkte und Geschäftsmodelle

Die Digitalisierung verändert nicht nur einzelne Marktsegmente, sie schafft sogar ganz neue: Der GDV hat unverbindliche Musterbedingungen für Cyber-Versicherungen entwickelt, die speziell kleine und mittlere Unternehmen schützen können.13 Sie richten sich sowohl an Arztpraxen oder Anwaltskanzleien als auch an Handwerksbetriebe und Industriezulieferer. Die Versicherung leistet hier nicht nur bei Datenklau und Betriebsunterbrechungen, sondern übernimmt auch Kosten für IT-Forensiker oder Krisenkommunikation.

Die zur Ermittlung des Cyberrisikos erforderlichen Auskünfte des Kunden sind andere, als für den Abschluss einer üblichen Betriebshaftpflicht- oder Gebäudeversicherung. Damit Versicherer vor Abschluss eines Vertrages das individuelle Risiko eines Kunden, Opfer einer Cyberattacke zu werden, besser einschätzen können und das zu versichernde Unternehmen mögliche Schwachstellen seiner IT-Sicherheit leichter erkennt, hat der GDV auch unverbindliche Risikofragen entwickelt. Anzahl und Inhalt der Fragen sind abhängig von der jeweiligen Risikokategorie und den Geschäftsfeldern des Unternehmens und ob es beispielsweise mit sensiblen Daten umgeht, vernetzt produziert oder E-Commerce betreibt.

Es werden bei Bedarf auch neue Arten von Risikodeckungen möglich: Kurzzeitversicherungen etwa, die nach dem On-demand-Prinzip situativ abgeschlossen werden können. Beispiele sind eine tageweise zubuchbare Erweiterung des Fahrerkreises bei der Kfz-Versicherung und eine Unfallversicherung speziell für den Skiurlaub.

Gleichzeitig sind bei den Versicherern viele Ansätze innovativer Erweiterungen des Geschäftsmodells zu beobachten: Neben der Geldleistung im Versicherungsfall wird der Kunde zunehmend beim Umgang mit Risiken unterstützt oder erhält direkte Hilfeleistungen. Dazu gehören etwa Hinweise zu einer Verbesserung des Fahrverhaltens und schnelle Hilfe bei einem Unfall in der Kfz-Versicherung sowie Hilfen beim Management chronischer Krankheiten in der Krankenversicherung. Versicherer werden dadurch noch stärker als bisher zum Partner im Umgang mit Risiken. Versicherer machen Angebote, die risikoarmes Verhalten durch besonders günstige Tarife belohnen. Dazu erheben sie auf freiwilliger Basis schon heute Daten, etwa zum Fahrverhalten und zum Grad körperlicher Bewegung. Die Unternehmen belohnen umsichtiges Fahren und aktive Bewegung – als wesentlichen Beitrag zu moderner Schadenprävention.14

Eine der womöglich weitreichendsten Innovationen, die durch die digitalen Technologien ermöglicht wurden, ist die Sharing Economy – direkte Transaktionen zwischen Privatpersonen, das sogenannte Peer-to-Peer über Internetportale, die lediglich als Vermittler agieren. In einigen Bereichen haben derartige Portale bereits eine hohe Marktdurchdringung erreicht, etwa bei Kurzzeitvermietungen von privaten Wohnungen. Auch im Bereich der Kreditvermittlung gewinnen Peer-to-Peer-Plattformen an Bedeutung.

Im Versicherungsbereich sind Peer-to-Peer-Plattformen dagegen erst in Anfängen zu finden. So gibt es am deutschen Markt für einige Sparten der Schaden-/Unfallversicherung Ansätze bei der Übernahme kleiner Schäden innerhalb von Kleingruppen von Versicherten. Entstehen keine Schäden, erhalten die Kunden eine Beitragserstattung. Größere Schäden werden weiterhin durch Versicherer als Risikoträger gedeckt.

Anzeichen der Ausweitung einer Peer-to-Peer-Absicherung auf höhere Risiken gibt es im Privatkundengeschäft bisher jedoch nicht – und im Gewerbekundengeschäft erst recht nicht. Im Zuge des weiteren Innovationswettbewerbs ist aber zu erwarten, dass neue Produktangebote, die Peer-to-Peer-Elemente integrieren, auf den deutschen Versicherungsmarkt kommen könnten.

Ein möglicher Wettbewerbsvorteil dieser Produkte kann darin bestehen, dass in der Kleingruppe ein Gemeinschaftsgefühl entsteht, welches eine deutlich geringere Betrugsneigung hervorbringt und damit positive Auswirkungen auf die Schadenentwicklung haben kann. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass Versicherungsrisiken verstärkt oder gar vollständig von Peer-to-Peer übernommen werden. Dem stehen die Besonderheiten des Versicherungsgeschäfts entgegen. Dazu gehört ein hohes Schadenpotenzial, etwa in der Haftpflichtversicherung. Außerdem sei an den langfristigen Charakter insbesondere vieler Personenversicherungsverträge erinnert. Mit ihnen verbunden ist die notwendige Gewähr der versprochenen Leistungen auch bei ungünstigen Entwicklungen, damit die Versicherung für den Einzelnen ihren Zweck erfüllt, Stichwort „mögliche Nachschusspflicht“. Dementsprechend stellen sich beim Peer-to-Peer-Angebot auch noch zahlreiche rechtliche Fragen.

Um diese beschriebenen Potenziale produktiv nutzen zu können, müssen Versicherer Spielraum für Innovation und Rechtssicherheit haben. So müssen diese vereinbaren dürfen, dass im Ermessen der Kunden risikorelevante Daten aus vernetzten Endgeräten für Versicherungs- und Serviceangebote genutzt werden können. Die Datenhoheit der Versicherungsnehmer, etwa beim automatisierten Fahren, ist dabei Voraussetzung für einen funktionierenden Wettbewerb um die besten Lösungen.

Appell für eine neue Risikokultur

Ein grundsätzlicher Appell zum Thema Sicherheit im Netz: Die Gesellschaft braucht nicht weniger als eine neue Risikokultur für den Cyber-Space: erstens und ganz grundlegend die Bereitschaft der Wirtschaft, diese Risiken ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln; zweitens ein gemeinsames Verständnis über einen Grad an IT-Sicherheit, der ein Unternehmen zuverlässig schützt, aber nicht wirtschaftlich überfordert und drittens natürlich Versicherungen, die das verbleibende Risiko decken und den Unternehmen im Ernstfall nicht nur mit Geld, sondern auch mit Know-how zur Seite stehen. Mit der Veröffentlichung der unverbindlichen Musterbedingungen für diese neuen Produkte durch den GDV wird sich der junge Markt hoffentlich dynamisch entwickeln. Den ersten Schritt allerdings – das Risiko erkennen und es ernst nehmen – muss jedes Unternehmen selbst gehen, wenn es nicht Opfer des derzeitigen kriminellen Goldrausches im World Wide Web werden will.

Die Absicherung von Risiken bleibt den Versicherern folglich als zentrales Geschäftsmodell erhalten. Die Digitalisierung hilft aber, Versicherungen individueller und passgenauer zu gestalten. Neue Daten und Analysetechniken erlauben eine exaktere Risikobewertung und erweiterten Versicherungsschutz.

Die Prozess-Revolution

Hoher Automatisierungsgrad in der Versicherungswirtschaft

Standardisierte und automatisierte Prozesse bilden einen wesentlichen Grundpfeiler für die Digitalisierung des Versicherungsgeschäfts. Wenn der Versicherungskunde individualisierte, smarte und sekundenschnelle Reaktionen von seinem Versicherer erwartet, so ist jenes für Versicherungsunternehmen nur durch eine konsequente und durchgängige Automatisierung und Beschleunigung ihrer Prozesse zu erreichen. Und dies gilt für sämtliche Sparten, Fachbereiche und Geschäftsprozesse der Unternehmen.

Programme legen automatisch Akten an, verwandeln eingescannte Schreiben in maschinen-lesbaren Text, prüfen Rechnungen auf Plausibilität oder lösen eigenständig Zahlungen aus.15 Während in der Schaden- und Unfallversicherung im Jahr 2013 nur knapp jedes achte Kundenanliegen von Anfang bis Ende vollautomatisiert bearbeitet werden konnte, ist es heute bereits jedes vierte. Auch in der Lebensversicherung stieg der Anteil der vollautomatisierten Bearbeitung, und zwar von vier auf elf Prozent (siehe Abbildung 2). 2017 gab die Branche insgesamt 4,45 Milliarden Euro für Informationstechnologie aus.

Abbildung 2: Vollautomatisierte Verarbeitung nach Sparten

Abbildung 2: Vollautomatisierte Verarbeitung nach Sparten © GDV Abbildung 2: Vollautomatisierte Verarbeitung nach Sparten

Selbst der World Insurance Report 2018 von Capgemini bescheinigt den deutschen Versicherern einen vorbildlichen Stand beim Einsatz digitaler Technologien zur Automatisierung.16 Besonders deutlich wird das im Bereich der robotergesteuerten Prozessautomatisierung (RPA) über alle drei Versicherungssegmente (Sach-, Lebens- und Krankversicherung) hinweg. Die große Mehrheit der deutschen Versicherer (89 Prozent) hat RPA-Systeme zumindest pilotiert (36 Prozent) oder bereits vollständig im Einsatz (53 Prozent). Aber auch bei der Implementierung anderer Automatisierungstechnologien (unter anderem Künstliche Intelligenz, Machine Learning/Deep Learning und Blockchain) zählen deutsche Versicherer nach Einschätzung von Capgemini zu den Vorreitern im internationalen Vergleich.17

KI als Treiber der Prozess-Revolution

Für die Verbesserung von Geschäftsprozessen bieten KI-Lösungen ein enormes Potenzial und sind damit wesentliche Werkzeuge bei der Prozess-Revolution in den Unternehmen. KI-Systeme sind aber immer nur so gut wie die Daten und Informationen, mit denen sie gefüttert und trainiert werden. Leistungsfähige KI-Lösungen sollten daher mit allen Informationen, die ein Versicherer bisher gesammelt hat, versorgt werden können. Und natürlich mit allen weiteren Fakten, zum Beispiel zu Produkten, die das Unternehmen anbietet. Dieses Inputmanagement entscheidet letztlich, wie gut die Ergebnisse sind, die eine KI im Versicherungseinsatz abliefert. Am Ende profitieren Verbraucher wie Unternehmen von einer fairen und verantwortungsbewussten Nutzung dieser Verfahren, wie sie etwa bei Chatbots zum Einsatz kommen.18 Man denke auch an den neuen Rentenrechner des GDV: Spielerisch, mit mathematischer Genauigkeit, berechnet das Tool binnen einer Minute mögliche Vorsorgelücken.19

Wie das Beispiel der Schrifterkennung und -auswertung mittels KI zeigt, ist dies ein durchaus aufwendiger Weg: Schriftliche und digitale Dokumente wie E-Mails, unterzeichnete Verträge auf Papier, Web-Formulare, Fax-Sendungen oder PDF-Dateien beispielsweise für die Schadenabwicklung müssen dafür dem KI-System zugeführt werden. Bevor eine KI aus einem solchen Datenmix Informationen und Wissen generieren kann, müssen alle Fakten mittels Natural Language Processing (NLP) maschinengerecht aufbereitet werden. In einem nächsten Schritt muss das System die Bedeutungszusammenhänge der Fachbegriffe lernen, um sie künftig richtig zuordnen und interpretieren zu können.

Erst durch diese begriffliche Anreicherung der Fakten und der Regeldefinition für die Verarbeitungsalgorithmen versteht das System den Kontext, kann Texte richtig interpretieren und daraus Handlungsoptionen ableiten. So kann das KI-System dann aus den unstrukturierten und verteilt liegenden Texten die Informationen herauslesen. Diese Anlernphase ist entscheidend für die Güte der Informationen im späteren Einsatz. Und diese Lernphase muss durch Menschen didaktisch gestaltet und sinnvoll strukturiert werden. Denn nur wenn diese Lernphase gut organisiert ist, wird das System auch eigenständig intelligenter und kann durch die Anwendung seines Wissens Muster und Gesetzmäßigkeiten selbst ableiten und künftig anwenden.

Moderne Zahlungsdienstleister als Partner der Prozess-Revolution

Die Prozesse rund um Zahlung und Auszahlung sind – mit dem E-Commerce vergleichbar – zentrale Erfolgsfaktoren für die Digitalisierung in der Versicherungswirtschaft. Der Kunde erwartet für die Bezahlung seiner Prämien und die Auszahlung seiner Leistungen höchstmöglichen Komfort, idealerweise gepaart mit umfassender Flexibilität und maximaler Sicherheit. Die Branche bietet alternative Zahlverfahren allerdings noch zurückhaltend an. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die am Markt agierenden Zahlungsdienstleister – ob klassisches Kreditinstitut oder neu am Markt tätiger Zahlungsdienstleister – ihre Angebote bisher primär an den Bedürfnissen des E-Commerce ausrichten. Die Versicherungswirtschaft und deren Produkt-palette sind jedoch nicht ohne Weiteres mit anderen Branchen vergleichbar. So ist die Bezahlung eines online bestellten Artikels im E-Commerce etwas anderes, als wiederkehrende Prämienforderungen aus einem Versicherungsvertrag zu begleichen. Zudem erwarten die Versicherer von einem modernen Zahlungsdienstleister nicht nur die reine Abwicklung einer Zahlung. Es geht ihnen auch um die Kombination des Bezahlvorgangs mit weiteren prozessualen Mehrwerten, um dadurch die Digitalisierungsprozesse in den Unternehmen zu unterstützen und den Automatisierungsgrad zu erhöhen (zum Beispiel: sichere Kundenidentifizierung/-authentifizierung, E-Invoicing-Services mit verlinkter Bezahlfunktion, Erteilung eines rechtssicheren elektronischen Lastschriftmandats). Auf diese Weise können Zahlungsdienstleister zu starken Partnern bei der Prozessautomatisierung und Digitalisierung der Versicherer werden.

Mit der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie (Payment Services Directive – PSD 2) und dem von ihr verfolgten Open-Banking-Ansatz wurde die Grundlage für diese Entwicklung geschaffen. Für Banken, Sparkassen und neue Zahlungsdienstleister eröffnet sich nun gleichermaßen die Chance, sich zu einem Zahlungsdienstleister im eigentlichen Wortsinne zu entwickeln. Die entstehenden offenen API-Ökosysteme (Application Programming Interface) ermöglichen die Schaffung von innovativen Mehrwertangeboten rund um Konto und Zahlung und den Umbau in Richtung einer digitalen Bankenplattform. Diese Entwicklung hin zu digitalen Payment-Ökosystemen wird von der deutschen Versicherungswirtschaft aufmerksam verfolgt und begrüßt. Sie bietet auch für die Versicherer die Möglichkeit, die eigenen Zahlungsverkehrs- und Abrechnungsprozesse effizienter, digitaler und kundenfreundlicher zu gestalten.

Sicherheit und Standards entscheidend für Interoperabilität und den Unternehmenserfolg

Entscheidend für den Erfolg ist das Vertrauen der Kunden: Ihre Daten sind unverzichtbare Ressource im Kerngeschäft. Ihre Sicherheit und Integrität stehen an erster Stelle. Unabhängig davon, ob Daten und Algorithmen intern oder extern etwa durch Cloud-Computing verarbeitet werden, müssen geeignete Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden, um die IT-Sicherheit zu gewährleisten.

Zur Sicherstellung einer zukünftigen Handlungsfähigkeit muss Interoperabilität und Sicherheit zwingend von Beginn an mitgedacht und nach dem Motto „Security by Design“ in IT-Systemen und Geschäftsprozessen eingebaut werden. Denn gerade die vollautomatisierte End-to-End-Bearbeitung birgt noch für alle Versicherungssparten erhebliche Kosteneffizienzpotenziale. Die bereits angestoßenen Optimierungsmaßnahmen gilt es weiter mit hohem Engagement voranzutreiben und mittels einer idealerweise technikneutralen und modernen Gesetzgebung zu flankieren.

Neue Wettbewerber, mehr Anbietervielfalt

Marktpositionen verschieben sich

In den vergangenen Jahren sind zahlreiche neuartige Wettbewerber in den deutschen Versicherungsmarkt eingetreten, etwa die Insurtech-Startups. Die allermeisten dieser neuen Player beschränken sich auf Teile der Wertschöpfungskette, wie den Vertrieb oder IT-Services.20 Einige Insurtechs haben mittlerweile aber auch eine Versichererlizenz erhalten. Über einen stärkeren Markteintritt der großen Technologie-Konzerne oder anderer branchenfremder Konzerne wird spekuliert. Die neue potenzielle Konkurrenz befeuert den Wettbewerb und die Innovationsdynamik und erhöht den Anpassungsdruck auf traditionelle Versicherer.

Die verschiedenen Anbietertypen – etablierte Versicherer, Insurtech-Startups sowie Newcomer aus anderen Branchen wie etwa Technologieunternehmen – verfügen dabei jeweils über spezifische Stärken. Insurtechs können ihre Angebote ohne Altlasten voll auf die digitale Welt zuschneiden. Die Bigtechs zeichnen sich durch ihre Expertise im Umgang mit neuen Technologien und ihren umfangreichen Datenpool aus. Traditionelle Versicherer dagegen profitieren von ihren gewachsenen Kundenbeziehungen und ihrer umfassenden Versicherungs- und Regulierungskompetenz. Sie stehen aber vor der Herausforderung, ihre Strategie und ihren Geschäftsbetrieb an die neuen Gegebenheiten anzupassen.

Markteintritte und -austritte sowie Unternehmenstransaktionen werden zunehmen

Den Wettbewerbern eröffnen sich dabei ganz unterschiedliche strategische Optionen, um sich am Markt zu behaupten. Zu beobachten ist, dass Versicherer ganz unterschiedliche strategische Wege gehen. Die traditionell sehr vielfältige Anbieterlandschaft am deutschen Versicherungsmarkt differenziert sich damit weiter aus. Dies wird durch die zunehmende Bedeutung von Kooperationen – sowohl zwischen Versicherern und Firmen anderer Branchen als auch zwischen mehreren Versicherern – verstärkt. Im Wettbewerbsprozess ist für die nächsten Jahre mit erheblichen Verschiebungen in den Marktpositionen zu rechnen. Nicht alle Versicherer werden sich am Markt behaupten können. Markteintritte und -austritte sowie Unternehmenstransaktionen werden zunehmen.

Extreme Veränderungen der Anbieterlandschaft mittelfristig unplausibel

Vor diesem Hintergrund hat der GDV im Rahmen einer Projektgruppe untersucht, wie sich durch die tiefgreifenden Veränderungen mittelfristig – bis ca. 2025 – die Anbieterlandschaft am deutschen Versicherungsmarkt wandeln könnte.21

Aus den vorliegenden Informationen lassen sich fünf Extremszenarien als langfristig theoretisch denkbare Entwicklung für die Anbieterlandschaft identifizieren:

  • Neuartige Versicherer (Insurtechs oder die Versicherertöchter von Technologieunternehmen) verdrängen die bisherigen Anbieter.
  • Die traditionellen Versicherer passen sich erfolgreich an und behalten ihre dominante Marktstellung.
  • Versicherer werden zu reinen Risikoträgern, die Kundenschnittstelle wird von anderen Unternehmen – wie etwa Internetplattformen – bedient.
  • Durch die neuen Möglichkeiten der digitalen Vernetzung fragmentiert sich die Wertschöpfungskette.
  • Es kommt zu einer Disintermediation der Versicherer als Risikoträger, zum Beispiel durch Peer-to-Peer-Portale.

Bei aller Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung und die möglichen verschiedenen Entwicklungspfade: Ergebnis der Analysen des Verbandes ist, dass sich voraussichtlich keines der Extremszenarien einstellen wird. Stattdessen ist zu erwarten, dass sich in der zukünftigen Anbieterstruktur am Versicherungsmarkt Elemente aus allen Szenarien wiederfinden werden. In der mittelfristigen Entwicklung dürften sich die verschiedenen Extremszenarien allerdings sehr unterschiedlich niederschlagen (siehe Abbildung 3).

Vieles spricht dafür, dass etablierte Versicherer durch erfolgreiche Anpassungen an die neue Welt auch in den nächsten Jahren eine starke Marktposition behalten werden. Gleichzeitig ist allerdings auch zu erwarten, dass sich einige neuartige Versicherer erfolgreich am Markt behaupten. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Kooperationen und Internetportalen an der Schnittstelle zum Kunden könnten Versicherer in Zukunft häufiger als bisher die Rolle eines reinen Risikoträgers übernehmen. Der Disintermediation – dem Ersetzen der Versicherer in ihrer Rolle als Risikoträger durch andere Modelle der Risikoübernahme – dürften dagegen auf absehbare Zeit enge Grenzen gesetzt sein. Auch eine starke Fragmentierung der Wertschöpfungskette scheint angesichts der in vielen Bereichen bestehenden Größenvorteile wenig plausibel.

Abbildung 3: Bandbreite mittelfristig plausibler Entwicklungen – Ranking der erwarteten Relevanz der Extremszenarien

Abbildung 3: Bandbreite mittelfristig plausibler Entwicklungen – Ranking der erwarteten Relevanz der Extremszenarien © GDV Abbildung 3: Bandbreite mittelfristig plausibler Entwicklungen – Ranking der erwarteten Relevanz der Extremszenarien

Aus heutiger Sicht spricht sehr vieles dafür, dass der deutsche Versicherungsmarkt auch mittelfristig durch eine breite Auswahl an Angeboten und Anbietern gekennzeichnet bleiben wird. Hierfür sprechen Markteintritte ebenso wie Anpassungen innerhalb der Gruppe der etablierten Anbieter. Eine hohe Leistungsfähigkeit in allen Segmenten des Versicherungsmarkts unter den zukünftigen Gegebenheiten kann allerdings nicht alleine durch den Wettbewerbsprozess und die kontinuierliche Anpassung der Anbieter gewährleistet werden. Auch Staat und Aufsicht sind gefordert. Über eine effektive Wettbewerbspolitik und einen sachgerechten Regulierungsrahmen muss ein fairer Wettbewerb zwischen herkömmlichen und neuen Geschäftsmodellen und allen Gruppen von Anbietern – auch über die Branchengrenzen hinaus – sichergestellt sein. Monopolstellungen muss entgegengewirkt werden.

Zentrale Grundsätze für den Regulierungsrahmen sind die Gewährleistung eines Level Playing Fields für alle Anbieter und die konsequente Anwendung des Proportionalitätsprinzips in der Aufsicht.22 Regulierung muss effizient und effektiv erfolgen und darf die Nutzung der Chancen der neuen Welt nicht unnötig beeinträchtigen, etwa durch nicht mehr zeitgemäße Vorgaben. Nur dann kann der Wettbewerb auf dem Versicherungsmarkt auch in bewegten Zeiten als ständiges Entdeckungsverfahren für die besten Lösungen im Sinne von Kunden und Gesellschaft wirken.

Wettstreit um Talente

IT-affine Mitarbeiter als Schlüssel zum digitalen Unternehmen

Mit Fug und Recht verlangen die Kunden, dass Versicherer die Chancen der Digitalisierung nutzen und ihre Produkte und Services kontinuierlich weiterentwickeln: bequemer, einfacher, innovativer, schneller, günstiger. Tun es die Versicherer nicht, werden es eben neue Wettbewerber tun – und die sind agil wie nie zuvor; auch auf dem Arbeitsmarkt.

Dass es gerade in Zeiten technologischer Sprünge auf die Qualifikation der Mitarbeiter an-kommt, ist keine ganz neue Entdeckung. Umso häufiger wird die Frage nach den negativen Wirkungen der Digitalisierung auf die Zahl der Arbeitsplätze in der Versicherungswirtschaft gestellt. Wahrscheinlich dürften zuallererst die klassische Sachbearbeitung oder die Kundenservicecenter betroffen sein. Hier zeigen sich die Wirkungen der Prozessoptimierung oder des Einsatzes von Robotics, künstlicher Intelligenz und Blockchain. Doch die Digitalisierung löst auch Gegeneffekte aus, es bedarf bereits jetzt neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit neuen Fähigkeiten. Um diese Digital Natives für ein Versicherungsunternehmen zu gewinnen, müssen sich diese selbst zu digitalen Unternehmen wandeln. Dabei dürfte sich weniger der Wille zur Digitalisierung, sondern die Verfügbarkeit von IT-affinen Mitarbeitern als Nadelöhr im Erneuerungsprozess des Versicherungsunternehmens herausstellen.

Die Branche steht hier vor einer großen Herausforderung. Eine aktuelle GDV-Studie belegt, dass sich der Stellenaufbau in der IT zwar fortsetzt, dieser aber bei Weitem nicht den gestiegenen Bedarf an qualifiziertem internen IT-Personal deckt. Dies wiederum erhöht den Druck, alte IT-Systeme konsequent abzuschalten und durch neue zu ersetzen, was den Wert der hierfür erforderlichen qualifizierten Digital Natives steigert.

Im digitalen Unternehmen werden gut ausgebildete Querdenker benötigt, die sich für die Versicherungswirtschaft begeistern lassen. Insofern fordert die Digitalisierung von Versicherern einen Spagat: Beschäftigte mit Erfahrung mitzunehmen in die neue Arbeitswelt und gleichzeitig attraktiv zu sein für neue Mitarbeiter mit neuen Qualifikationen. Wer den Weg in die Zukunft mitgehen will, der muss multimedial denken, in den sozialen Netzwerken ebenso zu Hause sein wie im klassischen Versicherungsgeschäft und vor allem: Er muss den Kulturwandel wollen. Und der Kulturwandel nimmt Fahrt auf: mehr Trial and Error, Coworking-Spaces, gar ein hauseigenes Basketballfeld – auch die neue Arbeitswelt spiegelt eine Branche im digitalen Umbruch wider.23

Moderne Arbeitswelten zulassen und fördern

Arbeitszeitmodelle müssen der Digitalisierung Rechnung tragen und noch flexibler werden, als sie ohnehin schon sind. Denn je orts- und zeitflexibler sich die Menschen in der Branche einbringen können, umso mehr steigern sie in der digitalisierten Arbeitswelt ihre Einsatz- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Allerdings setzt das deutsche Arbeitszeitgesetz einer flexibleren Arbeitswelt der Zukunft enge Grenzen. Die nationalen und europäischen Gesetzgeber sind deshalb gefordert: Das deutsche Arbeitszeitgesetz, aber auch die Europäische Arbeitszeitrichtlinie müssen grundsätzlich überarbeitet und an die Erfordernisse gegenwärtiger Produktionsbedingungen angepasst werden.

Die Tarifverträge für die private Versicherungswirtschaft haben einen sehr hohen Verbreitungsgrad. Dies liegt vor allem daran, dass sie den Betriebsparteien (Unternehmen und Betriebsräten) zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten belassen. Dies gilt auch für die Gestaltung der Arbeitszeit. Allerdings werden nicht alle Facetten einer flexiblen Arbeitszeitgestaltung ausgeschöpft. Außerdem ist der Geltungsbereich der Tarifverträge äußerst weit gezogen und erfasst auch deutlich übertariflich bezahlte Angestellte, die nicht leitende Angestellte im Sinne der gesetzlichen Definition sind. Die Tarifvertragsparteien der Branche sind aufgerufen, hier für mehr Flexibilität zu sorgen. Ziel muss es sein, die tarifliche Arbeit so flexibel zu gestalten, dass auch und gerade die neuen Wettbewerber auf dem Markt, wie etwa Insurtechs den Flächentarifvertrag als sinnvolles Gestaltungsinstrument der Arbeitsbedingungen in der Branche wahrnehmen und die Tarifbindung anstreben.

Agile Aufsicht

Regulierungsziele und Aufsichtspraxis sind zumeist technikneutral. Doch sie sind seit Jahr-zehnten von der analogen Welt geprägt. Agile Unternehmen in hoch regulierten Wirtschaftszweigen benötigen gleichfalls eine agile Aufsicht, um auf dem Weg in die digitale Zukunft Schritt halten zu können – mit den Erwartungen der Kunden, mit anderen Branchen und im internationalen Wettbewerb. Agil ist, wer schnell auf Veränderungen reagieren kann.24 Agil ist, wer flexibel ist, wer eine ausgeprägte Anpassungsfähigkeit aufweist, wer – aus eigenem Antrieb – beweglich ist. Allein eine Aufsicht auf digitaler Augenhöhe zu den beaufsichtigten Unternehmen kann diese in die Lage versetzen, ihre Geschäftsprozesse und Produkte in der gebotenen Geschwindigkeit zu verändern, ohne Einbußen bei bestehenden Verbraucherschutzstandards oder der Stabilität des Finanzsystems.

Offenheit für neue Technologien und konsequente Anwendung des Proportionalitätsprinzips

Was erwarten Versicherer also von einer agilen, digitalen Aufsichtsbehörde? Natürlich Offenheit für neue Technologien, nicht blind und bedingungslos, doch stets mit dem Blick auf die Chancen und nicht nur fokussiert auf potenzielle Bedrohungen. Wir wünschen uns die konsequente Vermeidung von Doppelregulierung und redundanten Berichtspflichten und die konsequente Anwendung des Proportionalitätsprinzips.25 Das heißt im Kern: Handlungsspielraum eröffnen, um digitales Geschäft und IT nach risiko- und geschäftsbezogenen Kriterien individuell anpassen zu können.

Daher ist es gut zu sehen, dass in keinem der Veränderungsprozesse der vergangenen 50 Jahre die deutsche Finanzaufsicht – in ihrer jeweiligen Struktur – so konsequent und rasch, ja agil, agiert wie auf den technologischen Wandel. Mit ihrer Studie „Big Data trifft auf künstliche Intelligenz – Herausforderungen und Implikationen für Aufsicht und Regulierung von Finanzdienstleistungen“26 hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) eine gründliche Analyse der Herausforderungen und Implikationen für Aufsicht und Regulierung von Finanzdienstleistungen erarbeitet. Damit hat die BaFin nicht nur national, sondern auch auf europäischer und internationaler Ebene eine Vorreiterrolle eingenommen.

Digitalisierungsstrategie der BaFin – ein Schritt in die richtige Richtung

Wie auch die Unternehmen arbeitet die BaFin agil an ihrer Digitalisierungsstrategie. Das ist gut so, erleichtert es doch die Kommunikation zwischen Unternehmen und Aufsicht. Im Kern wird sich die BaFin aus Sicht der Unternehmen in ihrer Strategie vier Fragen zu stellen haben:

  • Wie geht sie mit Marktveränderungen um, die der technologische Fortschritt in den Produkten und Prozessen verursacht?
  • Wie positioniert sich die Finanzaufsicht vor allem vor dem Hintergrund der Aufgaben des BSI zum Handlungsfeld „IT-Aufsicht und -Sicherheit“?
  • Wie plant die BaFin selbst ihren Weg in die digitale Welt, die Transformation in eine digitale Aufsichtsbehörde?
  • Wie kann mit Digitalisierung das Meldewesen zwischen Versicherungsunternehmen und Aufsicht effizienter gestaltet werden?

Die Einrichtung des Referats Finanztechnologische Innovationen und der Gruppe IT-Aufsicht/Zahlungsverkehr/Cybersicherheit sind daher ebenso wie die geplante Bestellung eines Chief Digital Officers bei der BaFin sicher die richtigen Schritte und Signale. Entscheidend ist der enge Dialog zwischen Aufsicht und beaufsichtigten Unternehmen.

Fazit

Die hier genannten sieben Gamechanger sind nur ein Teil der Herausforderungen, die mit der digitalen Revolution verbunden sind. Denn die digitale Agenda ist global, sie ist umfassend, und sie betrifft alle Wirtschaftszweige. Für die hochregulierte Versicherungsbranche heißt das, dass sie sich natürlich auch um die richtigen Rahmenbedingungen kümmern muss: Um Datenschutz und Urheberrecht, um digitale Infrastruktur und technische Standards. Und natürlich braucht sie auch faire und agile Regulierung – um nur ein paar der wesentlichen Aspekte zu nennen.

Und doch geht es nicht nur um die harten Themen. Wenn die Branche bei der Digitalisierung vorne dabei sein will, braucht sie vor allem eine Veränderung, die das kreative Potenzial entfesselt.

Dies aber ist zuvorderst eine Frage der Unternehmenskultur. Mit einem technokratischen Managementverständnis, dem es zuallererst um die Risikominimierung und Prozesskontrolle geht, lässt sich diese Veränderung nicht mehr steuern. Die digitale Transformation erfordert vielmehr einen Such- und Lernprozess, bei dem Versuch und Irrtum, Planung und Exekution mehr oder weniger parallel verlaufen. Deshalb ist eine Unternehmenskultur erforderlich, die Eigeninitiative, Selbstorganisation, Kreativität, Teamarbeit und interdisziplinäres Arbeiten fördert. Die Branche braucht das nicht nur, weil sie damit bessere Lösungen zustande bringt für die digitale Welt, sondern vor allem auch als Arbeitgeber, um die innovativsten Köpfe zu überzeugen. Dazu muss die Branche attraktive Angebote machen, Karrierechancen auch für das neue Verständnis von Arbeiten, von Eigenverantwortung, von Dynamik und diversen Teams anbieten. Die Versicherungsbranche braucht eine Unternehmenskultur, in der frei und neu gedacht wird. Das freilich ist eine Kultur, die man sich nicht kaufen kann. Sondern die man sich in einem manchmal mühsamen Veränderungsprozess erarbeiten muss. Und dies ist die vielleicht größte Aufgabe, vor der die Versicherungsbranche steht.

Autor

Dr. Jörg Freiherr Frank von Fürstenwerth
Mitglied des Präsidiums, Vorsitzender der Geschäftsführung
Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. (GDV)

Fußnoten

  1. 1 Schnurer, NDR.de – Für Hannover ist das Ende der Cebit ein Desaster, https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Fuer-Hannover-ist-Ende-der-Cebit-ein-Desaster,cebit4234.html, abgerufen am 5.12.2018.
  2. 2 Vgl. Reuters, Altmaier – Künstliche Intelligenz nach Airbus-Vorbild vorantreiben, https://de.reuters.com/article/deutschland-k-nstliche-intelligenz-idDEKBN1O30H1, abgerufen am 5.12.2018.
  3. 3 Vgl. Pressemeldung Europäische Kommission, Mitgliedstaaten und Kommission arbeiten gemeinsam an Förderung künstlicher Intelligenz « Made in Europe », http://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-6689_de.htm, abgerufen am 5.12.2018.
  4. 4 Vgl. GDV, Verbraucherleitbild, https://www.gdv.de/resource/blob/23930/5ee58e2831202f286c8c6bbec9d4609c/verbraucherleitbild-des-gdv-1016934987-data.pdf, abgerufen am 5.12.2018.
  5. 5 Institut für Versicherungswirtschaft Universität St. Gallen & Synpulse Schweiz AG, Denken Sie noch in Kanälen oder erreichen Sie Ihre Kunden schon? Die Customer Journey in einer multioptionalen Welt, https://www.ivw.unisg.ch/~/media/internet/content/dateien/instituteundcenters/ivw/studien/pm-customer%20journey%20mfz-studie2016.pdf, abgerufen am 5.12.2018.
  6. 6 Vgl. Bundeskartellamt, Sektoruntersuchung Vergleichsportale - Konsultation, https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Sektoruntersuchungen/Sektoruntersuchung_Vergleichsportale_Konsultation.html, abgerufen am 6.12.2018.
  7. 7 Vgl. GDV, Hey, Computer,, was geht ab ?, https://www.gdv.de/de/themen/positionen-magazin/hey--computer--was-geht-ab--39074, abgerufen am 5.12.2018.
  8. 8 Vgl. GDV, Automatisiertes Fahren – Weniger Unfälle, teurere Reparaturen, https://www.gdv.de/de/medien/aktuell/weniger-unfaelle--teurere-reparaturen-8286, abgerufen am 28.1.2019.
  9. 9 Symantec Corporation, Mirai Botnet, https://www.symantec.com/connect/blogs/mirai-what-you-need-know-about-botnet-behind-recent-major-ddos-attacks, abgerufen am 24.1.2019.
  10. 10 Symantec Corporation, Distributed Denial of Service Attack, https://us.norton.com/internetsecurity-emerging-threats-what-is-a-ddos-attack-30sectech-by-norton.html, abgerufen am 24.1.2019.
  11. 11 GDV, Smart Home – Versicherer warnen vor Cyberrisiken im digitalen Zuhause, https://www.gdv.de/de/medien/aktuell/versicherer-warnen-vor-cyberrisiken-im-digitalen-zuhause-8258, abgerufen am 5.12.2018.
  12. 12 Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI TR-03148 Sichere Breitband Router, https://www.bsi.bund.de/DE/Publikationen/TechnischeRichtlinien/tr03148/tr03148_node.html, abgerufen am 5.12.2018.
  13. 13 Vgl. GDV, Medieninformation – GDV stellt Musterbedingungen für Cyberversicherung vor, https://www.gdv.de/de/medien/aktuell/gdv-stellt-musterbedingungen-fuer-cyberversicherung-vor-8270, abgerufen am 5.12.2018.
  14. 14 Zu Erweiterungen des Geschäftsmodells und neuen Produktansätzen, vgl. etwa Wiener, Theis, Vier Gründe, warum die Versicherungswirtschaft wichtiger wird, in: GDV Makro und Märkte kompakt, Nr. 15, https://www.gdv.de/resource/blob/26204/b0ce16220de8b51d62f31e6f54fdeebe/makro-und-maerkte-kompakt---vier-gruende--warum-die-versicherungswirtschaft-wichtiger-wird-data.pdf, abgerufen am 6.12.2018.
  15. 15 Vgl. GDV, Digitale Schadenbearbeitung – Feinjustiert, https://www.gdv.de/de/themen/positionen-magazin/feinjustiert-38876, abgerufen am 5.12.2018.
  16. 16 Vgl. Capgemini, World Insurance Report 2018, https://worldinsurancereport.com/, abgerufen am 6.12.2018.
  17. 17 Vgl. IT Finanzmagazin, Deutsche Versicherer bei Automatisierungstechnologien über dem weltweiten Durchschnitt, https://www.it-finanzmagazin.de/deutsche-versicherer-bei-automatisierungstechnologien-ueber-dem-weltweiten-durchschnitt-71261/, abgerufen am 5.12.2018.
  18. 18 Vgl. GDV, a.a.O. (Fn. 7), abgerufen am 6.12.2018.
  19. 19 Vgl. GDV, Neuer Rentenrechner – In 60 Sekunden zur individuellen Altersvorsorge, https://www.gdv.de/de/medien/aktuell/in-60-sekunden-zur-individuellen-altersvorsorge-32892, abgerufen am 5.12.2018.
  20. 20 Vgl. etwa Institut für Versicherungswirtschaft Universität St. Gallen, The Current InsurTech Landscape: Business Models and Disruptive Potential, Institut für Versicherungswirtschaft Universität St. Gallen, https://www.ivw.unisg.ch/~/media/internet/content/dateien/instituteundcenters/ivw/studien/ab-insurtech_2017.pdf, abgerufen am 5.12.2018.
  21. 21 Vgl. GDV, Volkswirtschaftliche Themen und Analysen Nr. 8, Anbieterlandschaft am Versicherungsmarkt: Ein Ausblick, https://www.gdv.de/resource/blob/33376/29aaed518cba2d28d01aba3906c18f81/anbieterlandschaft-download-data.pdf, abgerufen am 6.12.2018.
  22. 22 Vgl. GDV, Solvency II – Wer soll das stemmen ?, https://www.gdv.de/de/themen/positionen-magazin/wer-soll-das-stemmen--39638, abgerufen am 5.12.2018.
  23. 23 Vgl. GDV, Karriere – Ziemlich geile Aufgaben, https://www.gdv.de/de/themen/positionen-magazin/ziemlich-geile-aufgaben-39582, abgerufen am 5.12.2018.
  24. 24 Vgl. Agile Unternehmen, Was ist agil und evolutionär im Kontext von Unternehmen ?, https://agile-unternehmen.de/was-ist-agil-definition/, abgerufen am 6.12.2018.
  25. 25 Vgl. GDV, Solvency II – Wer soll das stemmen ?, a.a.O. (Fn. 22).
  26. 26 BaFin, Big Data trifft auf künstliche Intelligenz – Herausforderungen und Implikationen für Aufsicht und Regulierung von Finanzdienstleistungen, www.bafin.de/dok/10985478, abgerufen am 6.12.2018.

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