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Erscheinung:15.11.2018 Auslegungsentscheidung zu Art. 56 DVO

Im Rahmen der Solvabilitätsübersicht nach Solvency II sind für sämtliche Versicherungsverpflichtungen gegenüber Versicherungsnehmern und Anspruchsberechtigten versicherungstechnische (vt.) Rückstellungen zu bilden. Diese sind auf vorsichtige, verlässliche und objektive Art und Weise zu berechnen. Die zur Berechnung der vt. Rückstellungen verwendeten Methoden müssen außerdem in Bezug auf die Art, den Umfang und die Komplexität der den Versicherungsverpflichtungen zugrundeliegenden Risiken angemessen sein.

Einleitung

Diese Auslegungsentscheidung befasst sich mit dem Aufsichtssystem Solvency II (Richtlinie 2009/138/EG) und richtet sich deshalb an alle inländischen Erst- und Rückversicherungsunternehmen gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 7 Nr. 33 und 34 VAG, soweit sie nicht Sterbekassen gemäß § 218 Abs. 1 VAG, Pensionskassen gemäß § 232 VAG oder kleine Versicherungsunternehmen gemäß § 211 VAG sind oder als Rückversicherungsunternehmen ihre Tätigkeit nach § 165 Abs. 1 VAG eingestellt haben.

Sie behandelt die Beurteilung der Angemessenheit der zur Bewertung der vt. Rückstellungen verwandten Methoden gemäß Art. 56 Delegierte Verordnung (EU) 2015/35 (DVO). Art. 56 DVO erfordert eine Reflexion der Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen hinsichtlich der von ihnen bei der Bewertung der vt. Rückstellungen verwandten Methoden und den diesen zugrundeliegenden Annahmen. Unter Methode wird die gesamthafte Herangehensweise zur Bewertung der vt. Rückstellungen verstanden.

Allgemeine Anforderungen des Art. 56 DVO

Für die Zwecke der Bewertung der vt. Rückstellungen unter Solvency II ist gemäß Art. 56 DVO eine angemessene Methode zu verwenden. Die Anforderungen des Art. 56 DVO sind sowohl für die Methode zur Ermittlung des besten Schätzwertes, wie auch für die Methode zur Ermittlung der Risikomarge und der einforderbaren Beträge aus Rückversicherung und gegenüber Zweckgesellschaften einschlägig.

Art. 56 Abs. 2 DVO erfordert zur Festlegung einer angemessenen Methode eine Prüfung, die in einem ersten Schritt eine Bestandsaufnahme von Art, Umfang und Komplexität der den Versicherungs- und Rückversicherungsverpflichtungen zugrundeliegenden Risiken umfasst.

Gemäß Art. 56 Abs. 3 Satz 3 DVO sind dabei all diejenigen Risiken zu betrachten, die für die Bewertung des Teils der vt. Rückstellungen relevant sind, der beurteilt wird. Alle Risiken, die sich über die Laufzeit der vt. Verpflichtungen auf den Betrag, den Zeitpunkt oder den Wert der in die Bewertung der vt. Rückstellungen eingehenden Zahlungsströme auswirken, fließen in die Betrachtung ein. Für die Zwecke der Beurteilung der Angemessenheit der Methode zur Ermittlung der Risikomarge sind alle in Art. 38 Abs. 1 Bst. i DVO genannten Risiken über die Laufzeit der Verpflichtungen zu betrachten.

Die Auswahl der Methode ist somit vom Unternehmen risikoadäquat zu treffen und daher unternehmensindividuell auf Basis der zugrundeliegenden Versicherungsverbindlichkeiten vorzunehmen.

In einem zweiten Schritt ist gemäß Artikel 56 Abs. 2 DVO eine Bewertung erforderlich, welche Auswirkungen sich in den Ergebnissen der vom Unternehmen ausgewählten Methode dadurch ergeben, dass die der Methode zugrundeliegenden Annahmen in Bezug auf die Risiken von den im ersten Schritt identifizierten Risiken abweichen. Eine solche Abweichung kann etwa dann entstehen, wenn der Methode vereinfachte Annahmen zur Abbildung der Risiken zugrunde liegen.

Die Analyse mündet in der Bewertung einer Gesamtauswirkung der betrachteten Abweichungen im Ergebnis der Methode, dem sog. Fehler. Der Fehler entspricht somit der Abweichung zwischen dem Ergebnis der Methode und der Zielgröße in Form von z.B. dem besten Schätzwert als erwarteter Barwert künftiger Zahlungsströme.

Die Bewertung des Fehlers gem. Art. 56 Abs. 2 Bst. b DVO stellt dagegen nicht darauf ab, die Abweichung der Höhe der vt. Rückstellungen von den tatsächlich zukünftig eintretenden Aufwendungen in der Abwicklung der Verpflichtungen zu ermitteln. Diese lassen sich immer erst im Nachhinein feststellen.

Angemessenheitsprüfung im Kontext des Art. 56 DVO


Eine Methode ist nach Art. 56 Abs. 4 DVO nicht angemessen, wenn die Beurteilung des Fehlers ergibt, dass es zu einer fehlerhaften Darstellung der vt. Rückstellungen oder ihrer Bestandteile kommt, die die Adressaten der Informationen in ihren Entscheidungen oder Beurteilungen beeinflussen könnte. In diesem Fall liegt ein wesentlicher Fehler vor.

Die Beurteilung, ob der Fehler wesentlich im obigen Sinne ist, erfolgt in Hinblick auf alle Komponenten der vt. Rückstellungen, d.h. den besten Schätzwert, die Risikomarge und die einforderbaren Beträge. Die Betrachtung kann auf Ebene der gesamten Geschäftstätigkeit, auf Ebene der einzelnen Geschäftsbereiche oder auf Ebene der homogenen Risikogruppen erfolgen. Entsprechend Leitlinie 48 der Leitlinien zur Bewertung von vt. Rückstellungen sollte die Ebene gewählt werden, die sich am besten für die Beurteilung der Wesentlichkeit eignet.

Die Bewertung des Fehlers baut auf qualitativen oder quantitativen Betrachtungen auf und stellt eine Abschätzung dar. Diese soll es ermöglichen, die Größenordnung des Fehlers einzuschätzen und das Vorzeichen zu beurteilen . Bei der Beurteilung der Wesentlichkeit des Fehlers sind sowohl die Auswirkungen auf die genannten Komponenten der vt. Rückstellungen, als auch darüber hinausgehende Auswirkungen auf die Eigenmittel und somit die Solvabilitätsübersicht sowie die Solvenzkapitalanforderung zu berücksichtigen.

Ist der Fehler wesentlich, gilt eine Methode nur dann als angemessen, wenn entweder

a) keine Methode mit einem geringeren Fehler verfügbar ist und die Methode voraussichtlich nicht dazu führt, dass die vt. Rückstellungen zu niedrig angesetzt werden oder

b) die Methode zu einem höheren Betrag führt als dem, der sich bei Verwendung einer proportionalen Methode ergäbe und keine Unterschätzung des Risikos der Verpflichtungen durch die Wahl der Methode resultiert.

Weitere Konsequenzen aus Art. 56 DVO auf die Berichterstattung und Validierung

Informationen zur Angemessenheit der bei der Bewertung der vt. Rückstellungen verwendeten Methoden stellen andere wichtige, nicht bereits im SFCR veröffentlichte Informationen im Sinne des Art. 310 Abs. 1 DVO dar. Über die Ergebnisse der durchgeführten Untersuchungen – inklusive der Bestandsaufnahme der den Versicherungsverpflichtungen zugrundeliegenden Risiken – ist daher im RSR im Teil D unter „D.2 Versicherungstechnische Rückstellungen“ zu berichten .

Die Validierung der Methode gemäß Art. 264 Abs. 1 Bst. f DVO stützt sich auf die Anforderungen des Art. 56 DVO.

Die verwendeten Methoden sollten grundsätzlich stetig angewandt werden. Ein Wechsel der Methode von Stichtag zur Stichtag ist nur in begründeten Fällen möglich . Ein Methodenwechsel ist hingegen dann notwendig, wenn festgestellt wird, dass die bisher verwendete Methode nicht länger angemessen ist.

Spezifika für lebensversicherungstechnische Verpflichtungen

Methoden, deren Anwendung regelmäßig zu einer fehlerhaften Darstellung der vt. Rückstellungen führen könnte, finden sich häufig im Zusammenhang mit der Abbildung von neuartigen Produkten. Produktinnovationen werden nach der Markteinführung in den Bewertungsmodellen oftmals zunächst nur stark vereinfacht abgebildet.

Aktuelle Beispiele für solche Produkte sind z.B. klassische überschussberechtigte Lebensversicherungen mit neuartigen Garantiemechanismen oder dynamische Hybridprodukte, deren marktkonsistente Bewertung im Allgemeinen äußerst komplex ist.

Auch bei seit langem vertriebenen Produkten, wie z.B. reinen fondsgebundenen Produkten sind Vereinfachungen zu beobachten. So werden diese häufig dadurch vereinfacht modelliert, dass spezifische Besonderheiten (wie zum Beispiel eine Mindesttodesfallleistung) nicht berücksichtigt werden.

Haben die oben genannten Produkte im Neugeschäft einen hohen Anteil, so führt dies voraussichtlich dazu, dass der potentielle Fehler aus der Anwendung von vereinfachten Methoden steigende Materialität erlangen wird. Dies ist für die Bewertung der Angemessenheit nach Art. 56 DVO und für die regelmäßige Validierung der vt. Rückstellungen nach Art. 264 DVO von besonderer Relevanz. Dabei ist sicherzustellen und in der Validierung zu überprüfen, dass die vereinfachte Abbildung bestimmter Produkte auf solche Weise durchgeführt wird, dass die oben dargelegten Anforderungen des Art. 56 Abs. 4 DVO eingehalten werden.

Wird bei dynamischen Hybridprodukten beispielsweise vereinfachend eine statische Aufteilung auf die verschiedenen Komponenten (z.B. bei einem 3-Topf-Hybrid auf die drei Töpfe) des Vertrags angenommen, so ist eine Analyse notwendig, welche Auswirkungen es hat, dass der Umschichtungsalgorithmus bei der Kalkulation der technischen Rückstellungen nicht modelliert wird.

Neben der Abbildung neuartiger Produkte sind die Anforderungen des Art. 56 DVO auch für viele weitere Themenfelder relevant, bei denen es ebenfalls zu einer fehlerhaften Darstellung der vt. Rückstellungen kommen kann. Mögliche Beispiele sind etwa die Modellierung künftiger Maßnahmen des Managements bzgl. Kapitalanlage und Überschussbeteiligung und deren Wechselwirkungen, die Modellierung eines dynamischen Versicherungsnehmerverhaltens oder die Projektion des zukünftigen Verlaufs der sog. Zinszusatzreserve.

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