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Erscheinung:14.07.2017 | Thema Kapitalanlagen von Versicherern Die Verwendung von derivativen Finanzinstrumenten im Rahmen des Grundsatzes der unternehmerischen Vorsicht (§ 124 VAG)

Verwendung von derivativen Finanzinstrumenten

I. Anwendungsbereich

1 Diese Auslegungsentscheidung befasst sich mit dem Aufsichtssystem Solvency II (Richtlinie 2009/138/EG) und richtet sich deshalb an alle inländischen Erst- und Rückversicherungsunternehmen gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 7 Nr. 33 und 34 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) soweit sie nicht Sterbekassen gemäß § 218 Abs. 1 VAG, Pensionskassen gemäß § 232 Abs. 1 VAG oder kleine Versicherungsunternehmen gemäß § 211 VAG sind oder als Rückversicherungs-unternehmen ihre Tätigkeit nach § 165 Abs. 1 VAG eingestellt haben.

2 Außerdem ist die Auslegungsentscheidung an alle Versicherungsgruppen gerichtet, die ausschließlich aus inländischen Erst- und Rückversicherungsunternehmen bestehen, sowie Versicherungsgruppen mit Erst- oder Rückversicherungs-unternehmen in anderen Mitglied- oder Vertragsstaaten gemäß § 7 Nr. 22 VAG, für die nach den in § 279 Abs. 2 VAG genannten Kriterien die Aufgabe der für die Gruppenaufsicht zuständigen Behörde der BaFin zufällt.

3 Nicht angesprochen sind Erst- und Rückversicherungsunternehmen, die den Abschluss neuer Versicherungs- oder Rückversicherungsverträge zum 1. Januar 2016 eingestellt haben und ihr Portfolio ausschließlich mit dem Ziel verwalten, ihre Tätigkeit einzustellen, und die weiteren in § 343 VAG genannten Voraussetzungen erfüllen.

II. Vorbemerkungen

4 Die in dieser Auslegungsentscheidung aufgezeigten Grundsätze und Prozesse sind als sinnvolle Verfahrensweisen (Good-Practice-Ansätze) zu verstehen, an denen sich die Unternehmen orientieren können. Die Aufsicht erwartet, dass die Unternehmen, im Falle der verstärkten Nutzung von Derivaten im Direktbestand, eine umfassende und intensive Auseinandersetzung mit den entsprechenden Risiken zu jeder Zeit sicherstellen und dies in angemessener Weise nachprüfbar dokumentieren. Da es sich hierbei um eine ureigene Beurteilung des Unternehmens handelt, sind alternative oder ergänzende Verfahrensweisen zu den in dieser Auslegungsentscheidung dargelegten Grundsätzen und Prozessen möglich. Sie können geboten sein, wenn dies zu einem angemessenen Umgang mit den Risiken führt.

5 Die folgenden Ausführungen gelten für Derivate, die für Lebens-versicherungsverträge erworben werden, bei denen das Anlagerisiko vom Versicherungsnehmer getragen wird, nur insoweit, als damit garantierte Leistungen dieser Verträge bedeckt werden.

III. Proportionalität

6 Bei der unternehmensindividuellen Umsetzung der Grundsätze und Prozesse hinsichtlich der Nutzung von Derivaten im Rahmen des Grundsatzes der unternehmerischen Vorsicht und der unternehmenseigenen Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung spielt das Proportionalitätsprinzip eine erhebliche Rolle. Die Anforderungen sind auf eine Weise zu erfüllen, die der Wesensart, dem Umfang und der Komplexität der mit der Tätigkeit des Unternehmens einhergehenden Risiken gerecht wird. Das Proportionalitätsprinzip knüpft also an das individuelle Risikoprofil eines jeden Unternehmens an.

7 Proportionalität wirkt sich darauf aus, wie Anforderungen erfüllt werden können. So können bei Unternehmen mit schwächer ausgeprägtem Risikoprofil einfachere Strukturen und Prozesse ausreichend sein. Umgekehrt kann das Proportionalitätsprinzip bei Unternehmen mit stärker ausgeprägtem Risikoprofil aufwändigere Strukturen und Prozesse erfordern. Die Einschätzung, welche Gestaltung als proportional anzusehen ist, ist in Bezug auf das einzelne Unternehmen nicht statisch, sondern passt sich im Zeitablauf den sich verändernden Gegebenheiten an. In diesem Sinne haben die Unternehmen und Gruppen zu prüfen, ob und wie die vorhandenen Strukturen und Prozesse weiter entwickelt werden können und gegebenenfalls müssen.

IV. Definition des zulässigen Einsatzes von Derivaten und der effizienten Portfolioverwaltung

8 Bei den nachfolgenden Ausführungen zur Zulässigkeit des Einsatzes von Derivaten ist zu beachten, dass die für die Derivate geltenden Regelungen auch für die in strukturierten Produkten eingebetteten Derivate Gültigkeit besitzen.

9 Nach § 15 Abs. 1 S. 2 VAG ist der Einsatz von Derivaten bei Erstversicherungs-unternehmen nur zur Absicherung gegen Kurs- oder Zinsänderungsrisiken bei vorhandenen Vermögenswerten oder zum späteren Erwerb von Wertpapieren sowie zur Erzielung eines zusätzlichen Ertrags aus vorhandenen Wertpapieren, ohne dass bei der Erfüllung von Lieferverpflichtungen eine Unterdeckung des Sicherungsvermögens eintreten kann, zulässig.

10 Darüber hinaus ist der Einsatz derivativer Finanzinstrumente gemäß § 124 Abs.1 Nr. 5 VAG für die unter Solvency II fallenden Erst- und Rückversicherungs-unternehmen nur zulässig, wenn sie zur „Verringerung von Risiken“ oder zur „Erleichterung einer effizienten Portfolioverwaltung“ beitragen. Für Erst-versicherungsunternehmen entspricht dies der bisherigen Verwaltungspraxis.
Arbitragegeschäfte und Leerverkäufe sind somit auch unter Solvency II ausgeschlossen. Damit dürfen Derivate neben Absicherungsgeschäften auch weiterhin nur für die Erwerbsvorbereitung und die Ertragsvermehrung aus dem vorhandenen Direktbestand eingesetzt werden.

11 Im Rahmen der Säule II, also der Anforderungen an das Governance-System, haben die Unternehmen die entsprechenden Risiken in Abhängigkeit von Volumen, Struktur und Art des betriebenen Versicherungsgeschäfts sowie nach Art und Umfang des betriebenen Derivategeschäfts zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber schreibt eine Auseinandersetzung mit Risiken im Rahmen des Grundsatzes der unternehmerischen Vorsicht nach § 124 Abs. 1 Nr. 5 VAG und innerhalb des Risikomanagements gem. § 26 Abs. 5 Nr. 3 VAG vor. Unternehmen haben sich daher umfassend und intensiv mit den Risiken aus Derivategeschäften auseinanderzusetzen und die Performance der Derivate zu überwachen.

12 Die effiziente Portfolioverwaltung beschreibt den Einsatz von Derivaten für den Zweck, die Qualität, Sicherheit, Liquidität oder Rentabilität des Portfolios zu verbessern, ohne dabei zu einer wesentlichen negativen Änderung des Risikoprofils des Unternehmens oder zu erheblichen zusätzlichen Risiken (z. B. unbegrenzte oder übermäßige Verluste) durch eine beträchtliche Erhöhung der Hebelwirkung des Portfolios zu führen.

Mögliche Beispiele für die effiziente Portfolioverwaltung können sein:

13 Beispiel A:
Ein Unternehmen möchte eine Long-Position in einem bestimmten Index eingehen und nutzt hierzu den Kauf eines Futures-Kontraktes mit dem entsprechenden Index als Underlying, anstatt alle Einzelwerte des Index in der entsprechenden Gewichtung selbst zu kaufen. Hier wird effiziente Portfolioverwaltung unter dem Kostenaspekt betrieben.

14 Beispiel B:
Ein Unternehmen möchte den Zahlungsstrom aus einem in sechs Monaten fälligen Schuldtitel bereits vorab in Form von Aktien wieder anlegen. Da das Unternehmen von einem Anstieg der Aktienmärkte innerhalb dieses Zeitraums ausgeht, erwirbt es einen Sechs-Monats-Future auf den relevanten Aktienindex. In diesem Fall betreibt das Unternehmen effiziente Portfolioverwaltung im Rahmen der Erwerbsvorbereitung.

15 Beispiel C:
Ein Unternehmen investiert langfristig in erstklassige Aktienwerte. Um einen zusätzlichen Ertrag zu generieren, verkauft das Unternehmen Call-Optionen („aus dem Geld“) auf die Aktien seines Bestandes.
In diesem Fall betreibt das Unternehmen effiziente Portfolioverwaltung zur Ertragsvermehrung.

16 Beispiel D:
Ein Unternehmen schließt ein verbindliches Geschäft zum Erwerb bzw. Verkauf von Schuldverschreibungen ab. Die Konditionen (bspw. Preis, Laufzeit, Zinssatz) werden bei Vertragsabschluss festgelegt, der Valutierungszeitpunkt des Geschäftes liegt jedoch in der Zukunft. In diesem Fall macht sich das Unternehmen von der zukünftigen Kapitalmarktliquidität und Marktpreisentwicklung unabhängig, es betreibt effiziente Portfolioverwaltung mit Form des Vorkaufs bzw. Vorverkaufes.

V. Anforderungen an das Risikomanagement beim Einsatz von Derivaten

17 Aufgrund der erhöhten Komplexität und des möglicherweise hohen Risikogehalts von Derivaten und vergleichbaren Instrumenten werden entsprechende Anforderungen an das Risikomanagementsystem der Unternehmen und die Qualifikation der zuständigen Mitarbeiter gestellt. § 26 Abs. 5 Nr. 3 VAG fordert daher, dass das Risikomanagementsystem im Bereich der Kapitalanlagen, insbesondere Derivate, abzudecken hat.

18 Die Verwendung von Derivaten muss im Einklang mit der Anlagestrategie und den Risikomanagementleitlinien stehen.

19 Die Risiken aus dem Einsatz von derivativen Finanzinstrumenten (insbesondere das Marktrisiko, Kreditrisiko, operationelle Risiko, Liquiditätsrisiko sowie gegebenenfalls das Modell- und Rechtsrisiko) sind zu identifizieren, messen, überwachen, managen, steuern und berichten.

20 Grundsätzlich sind für Derivate bzw. Derivatearten, -klassen oder –typen, die erstmalig eingesetzt werden, die entsprechenden internen Vorgaben für den Nicht-alltägliche-Anlage-Prozess (NAP) bzw. den Neue-Produkte–Prozess (NPP) zu beachten.

21 Die Unternehmen haben sicherzustellen, dass Überlegungen zu den nachfolgenden Gesichtspunkten bei den internen NPP- und NAP-Prozessen Berücksichtigung finden:

  • Risikoidentifikation und –bewertung (bspw. Berücksichtigung einer möglichen Gefährdung der Liquiditätssituation und der Bedeckung der versicherungstechnischen Rückstellungen mit dem Sicherungsvermögen durch Collateral- oder Marginforderungen)
  • Risikoüberwachung und –steuerung (bspw. Übereinstimmung mit der Anlagestrategie und den Risikomanagementrichtlinien, Überwachung der Konzentrationsrisiken, d. h. der maximal zulässigen Limite je Gegenpartei/Gruppe, Netting-Vereinbarungen, Collateral Management)
  • Integration in das Berichtswesen (hier auch Berücksichtigung der Anforderungen aus der European Market Infrastructure Regulation (EMIR))
  • Bilanzielle, steuerliche und rechtliche Behandlung

22 Zu Dokumentationszwecken und zur Verringerung von Rechtsrisiken hat es sich als zweckdienlich erwiesen, wenn anerkannte Rahmenverträge, wie der deutsche Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte oder das ISDA Master Agreement Verwendung finden.

23 Leitlinie 34 zum Governance System stellt Anforderungen an den Einsatz von Derivaten durch Versicherungsunternehmen. Setzt ein Unternehmen Derivate ein, so soll sichergestellt werden, dass die Verfahren, die das Unternehmen nutzt, um die Performance der Derivate zu überwachen, im Einklang mit den Risikomanagementleitlinien für Kapitalanlagen steht. Das bedeutet, dass angemessene interne Grundsätze und Verfahren für die Durchführung von Geschäften mit derivativen Finanzinstrumenten und deren regelmäßige Überprüfung zu entwickeln sind.

24 Nutzt ein Unternehmen Derivate oder andere Finanzinstrumente mit ähnlichen Eigenschaften oder Wirkungen, so hat das Unternehmen gemäß der Leitlinie 34 Verfahren einzusetzen, mit denen es die Strategie für die Verwendung dieser Art von Produkten evaluiert.

25 Durch den Einsatz von Derivaten zu Absicherungszwecken können deutlich erhöhte oder zusätzliche Risiken entstehen, bspw. durch ein insgesamt erhöhtes Gegenparteiausfallrisiko. Diese Risiken dürfen entstehen, müssen aber bereits im Voraus bewertet worden sein.
Beabsichtigt ein Unternehmen Derivate zur Absicherung einzusetzen, hat es sich mit den möglichen zusätzlichen Risiken aus diesem Einsatz zu beschäftigen. Stellt es dabei fest, dass es diese Risiken nicht im Voraus bewerten kann, scheidet der Einsatz aus.

VI. Effektiver Risikotransfer im Fall der Absicherung

26 Neben der Performanceüberwachung, dem Nachweis der Wirkung eines Derivates auf die Anlagegrundsätze des Portfolios, der Dokumentation von Entscheidungsgründen sowie der Evaluierung der Anlagestrategie, ist der Nachweis eines effektiven Risikotransfers zu erbringen.

27 Unter der Effektivität des Derivateeinsatzes wird die Erreichung verfolgter Ziele verstanden.
Werden Derivate zur Risikoreduzierung genutzt, besteht ein wesentliches Risiko in der Hedging-Effektivität und insbesondere darin, ob der Derivateeinsatz den beabsichtigten Effekt auf Mikro-, Makro- bzw. Portfolioebene erzielt und nicht zur Entstehung von wesentlichen anderen Risiken führt.

28 Setzt das Unternehmen also Derivate zur Verringerung von Risiken oder als Risikominderungstechnik ein, so hat das Unternehmen den durch den Derivateeinsatz erlangten effektiven Risikotransfer explizit zu belegen.

29 Bei der Bestimmung der Effektivität des Risikotransfers kann zwischen qualitativen und quantitativen Ansätzen unterschieden werden. Aufgrund der Praktikabilität wird zumeist auf qualitative Ansätze abgestellt. Dabei können Annahmen über die Wirksamkeit einer Sicherungsbeziehung zwischen dem abzusichernden Vermögensgegenstand und dem Derivat getroffen werden.

30 Voraussetzung ist, dass das Unternehmen tatsächlich dem Risiko ausgesetzt ist, das es zu hedgen versucht und dass kein wesentliches Basisrisiko besteht.
Der Nachweis kann derart erfolgen, dass ein eindeutiger wirtschaftlicher Zusammenhang zwischen dem bestimmten Risiko und dem Derivat aufgezeigt wird.
Das bestimmte Risiko kann dabei ggf. nur einen Teil der Risiken des abzusichernden Portfolios betreffen. Ein Beispiel hierfür ist die Absicherung von Währungsrisiken ohne die Absicherung von Zins- und Aktienrisiken. Ebenso kann das bestimmte Risiko in der Regel nur einzelne Marktszenarien betreffen; ein Beispiel hierfür ist das Risiko einer Währungsabwertung oder eines Aktiencrashs. Das bestimmte Risiko kann auch ein Risiko der allgemeinen Anlagestrategie betreffen.

31 Eine mögliche Methode zum qualitativen Nachweis stellt der Vergleich der wesentlichen Ausstattungsmerkmale von Einzeltitel bzw. Portfolio und Derivat dar. Stimmen - bei entsprechend gegenläufiger Wirkungsrichtung - die wesentlichen Vertragsmerkmale bezüglich des bestimmten Risikos überein und entstehen durch das Derivat keine wesentlichen neuen Risiken, kann davon ausgegangen werden, dass die Sicherungsbeziehung effektiv ist und somit auch ein effektiver Risikotransfer stattfindet.
32 Neben dem qualitativen Nachweis kann auch ein quantitativer Nachweis erbracht werden; ein Beispiel hierfür ist ein Effektivitätstest.
33 Um zu beurteilen, ob das gewünschte Absicherungsniveau realisiert wird, kann bspw. geprüft werden, inwiefern das Absicherungsinstrument und die abzusichernde Position in der Summe, bei einer für das abzusichernde Risiko relevanten Änderung von Marktverhältnissen, zu einer wesentlichen Ergebnisauswirkung (Gewinn oder Verlust) führen. Bei einem effektiven Absicherungsgeschäft und einem effektiven Risikotransfer sollte ein möglichst geringer Effekt auftreten.

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